Über den "Praxisleitfaden ME/CFS"

Ein beispielhaftes Projekt über Diagnostik und Therapie von ME/CFS, der schwersten Form von Long Covid, gemeinsam geschrieben von Betroffenen und Behandelnden.

Über den "Praxisleitfaden ME/CFS"

Die wichtigsten Punkte auf einen Blick

  • Ein soeben erschienener Praxisleitfaden ist ein seltenes Beispiel einer gemeinsamen Arbeit von fachkundigen Mediziner*innen und von der Krankheit betroffenen Personen. Gerade bei ME/CFS, das besonders stark von paternalistischem Auftreten von Behandelnden und Behörden betroffen ist, ist das ein wohltuender Ansatz.
  • Der Leitfaden bietet eine gut lesbare Übersicht über die Diagnose und Therapie.
  • Die abschließenden Wünsche / Forderungen an Medizin und Gesundheitspolitik sind so umfassend, wie die miserable Versorgungssituation in den D-A-CH-Ländern es verlangt.

Vor wenigen Tagen ist ein Praxisleitfaden ME/CFS erschienen, der weitgehend ohne medizinischen Kauderwelsch auskommt und deshalb auch für nicht-Mediziner gut lesbar ist. Er wurde gemeinsam von auf ME/CFS spezialisierten Mediziner*innen, v.a. der MedUni Wien und von Betroffenen der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS (ÖG ME/CFS) geschrieben.

ME/CFS oder die Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom ist eine schwere Krankheit, die meist als Langzeitfolge einer Infektion auftritt. Deutlich in die Höhe geschnellt ist die Zahl der Betroffenen durch die COVID-19-Pandemie. Die schwersten Formen von Long COVID und ME/CFS überschneiden sich. Immerhin ist ME/CFS, das zuvor weitgehend außerhalb des Blickfelds der Öffentlichkeit und auch des medizinischen Betriebs gestanden ist, durch die Pandemie etwas mehr in den Focus gekommen.

Obwohl es sich um eine schwere Krankheit mit einer massiven Einschränkung der Lebensqualität handelt, von der alleine in Österreich mindestens 100.000 Menschen betroffen sein dürften (mehr als grobe Schätzungen gibt es in Ermangelung valider Statistiken nicht), gibt es kaum Anlaufstellen für Betroffene. Die meisten von ihnen haben eine langen Irrweg durch die medizinischen Betrieb hinter sich, bis sie endlich einen Therapieplatz bekommen - wenn überhaupt.

In einem meiner ersten Blogartikel vor über einem Jahr habe ich schon erzählt, wie schwer es selbst für einen Mediziner mit einigermaßen Kenntnissen über COVID-19 und die Folgen wie mich war, eine Anlaufstelle für meine betroffenen Tochter zu finden. Ganz zu schweigen von dem, was ihre Leidensgenosseninnen mit Long Covid bzw. ME/CFS auf der Rehab erzählten - alles Jugendliche, die so schwer erkrankt waren, dass ihnen die Krankenkasse schließlich einen Rehabaufenthalt bewilligte.

Long Covid und ME/CFS - Teil 7
Substack-Artikel vom 18.04.2023: Der siebte und letzte Teil :: Überblick über einige wesentliche Aspekte von Long Covid und persönliche Anmerkungen :: Und ein paar Lesetipps :: Eine Vorbemerkung zu dieser Artikelserie: In den letzten 3 Jahren habe ich in meiner klinischen Tätigkeit im Spital viel mit COVID-19 zu tun gehabt. Bei

ME/CFS ganz eine komplexe, nicht einfach zu verstehende Krankheit, in der Diagnostik aufwendig und in der Therapie oft frustrierend. Den einen Marker, mit dem man die Diagnose stellen kann, gibt es nicht. Da ist es natürlich viel einfacher, es als psychisch oder psychosomatisch abzutun. Genau das passiert in Teilen der Neurologischen Fachgesellschaften und wird von viel zu vielen Gutachtern dankbar übernommen.

Da gibt es dann zum Beispiel Fachartikel wie diesen in der Fachzeitschrift "Der Nervenarzt" (Nervenärztinnen sind wohl mitgemeint), geschrieben von Neurolog*innen der MedUniWien, offenbar eine Uni mit sehr konträren Ansichten zu ME/CFS. Zwei Zitate daraus sind Beispiele für die paternalistische Art, mit der Betroffene häufig konfrontiert sind:

Bisher liegen weder pathophysiologisch eindeutig kausale noch therapeutisch evidenzbasierte Ergebnisse in der langjährigen wissenschaftlichen Forschung zu ME/CFS vor. Nicht zuletzt aufgrund der relevanten psychiatrischen Komorbiditätsrate beim ME/CFS ist nach der aktuellen Datenlage eine psychosomatische Ätiologie der Erkrankung zu diskutieren.
Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass strengere Diagnosekriterien aus „diplomatischen“ Gründen fehlen, wie auch in den letzten NICE-Guidelines versucht wird, den Wünschen von Patient:innen(‑Selbsthilfegruppen) gerecht zu werden.

Das ist die Attitüde, mit der viele ME/CFS-Patienten ständig konfrontiert sind. Das Projekt hinter dem Praxisleitfaden versucht das Gegenteil. Inklusion und Empowerment statt paternalistische Bevormundung.


Der Praxisleitfaden

Angesichts der Erfahrungen vieler, wenn nicht sogar der meisten von ME/CFS betroffenen Personen ist es umso positiver, dass sie selbst diesen Leitfaden in Kooperation mit fachkundigen Mediziner*innen, die ihre Krankheit und sie als Personen ernst nehmen, erstellen konnten. Ein Musterbeispiel für Empowerment und patientenzentrierte Medizin. Vorgestellt wird die Publikation dementsprechend sowohl auf der Webseite der ÖG ME/CFS als auch auf der Webseits der MedUni Wien. Der Praxisleitfaden selbst findet sich hier:

Care for ME/CFS - Praxisleitfaden für die Versorgung von ME/CFS Betroffenen
Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine schwere, chronische Multisystemerkrankung, die 0,3 - 0,9 Prozent der Gesamtbevölkerung betrifft. Ein Großteil der Betroffenen ist nicht mehr arbeitsfähig und geschätzte 25 Prozent der Betroffenen sind so schwer krank, dass sie ans Haus oder Bett gebunden sind. Trotz der Schwere der Krankheit und der hohen Anzahl an Betroffenen gibt es im gesamten D-A-CH-Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz) kaum geeignete Versorgungsstrukturen. Aufgrund der Komplexität, der hohen Krankheitslast und der spezifischen Einschränkungen, die sich für Patient:innen durch PEM und der Gefahr einer dauerhaften Zustandsverschlechterung ergeben, ist eine spezialisierte Versorgung in Form von interdisziplinären Anlaufstellen oder Spezialambulanzen notwendig. Das Ziel des Projekts “Care for ME/CFS” ist es die Erfahrung ME/CFS-Betroffener zu nutzen, um eine Grundlage für die Versorgung dieser Patient:innengruppe zu schaffen. Der Praxisleitfaden bietet konkrete Ansatzpunkte für Gesundheitsberufe und Behandler:innen in Bezug auf Diagnostik, Krankheitsmanagement und Therapieansätze, sowie für die Gestaltung von Versorgungsangeboten und Pflege. Gleichzeitig werden aus den Projektergebnissen auch Handlungsempfehlungen für Entscheidungsträger:innen auf gesundheitspolitischer Ebene abgeleitet, die aufzeigen, wo mit konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung von ME/CFS-Betroffenen angesetzt werden muss.

Quelle: https://zenodo.org/records/12091631

Nach der einleitenden Begriffsbestimmung wird die Einteilung von ME/CFS in vier Schweregrade vorgestellt. Schon hier wird uns klar vor Augen geführt, um was für eine schwere Krankheit es sich handelt. Selbst die leicht erkrankten sind in ihrem Alltag stark eingeschränkt und können einer Arbeit oder einem Studium meist nur mehr eingeschränkt nachkommen. Bei den moderat erkrankten ist das gar nicht mehr möglich.

Die Versorgung dieser Personen ist im ganzen D-A-CH-Raum (Deutschland. Österreich, Schweiz) völlig ungenügend. Spezialambulanzen gibt es in Deutschland lediglich an der Berliner Charité (ausschließlich für betroffene Erwachsene aus Berlin und Brandenburg) sowie in München an der TU für Betroffene bis 20 Jahre aus Bayern. In Österreich und der Schweiz gibt es gar keine Spezialambulanzen.

Wie weiter oben erwähnt sind grob geschätzt über 100.000 Menschen alleine in Österreich an ME/CFS erkrankt. In einer Erhebung bei 687 Patient*innen aus dem D-A-CH-Raum sind über 80% moderat oder schwer erkrankt (wobei anzunehmen ist, dass sowohl die Zahl der sehr schwer erkrankten unterschätzt ist, da diese meist zu krank sind, einen einfachen Fragebogen auszufüllen, als auch die Zahl der "leicht" erkrankten, da viele von ihnen die Diagnose ME/CFS noch gar nicht erhalten haben).

Daraus lässt sich nur erahnen, wie viele Kranke trotz starker Einschränkungen keine auch nur annähernd adäquate Versorgung bekommen.


Demografisches

Die 687 in der Erhebung erfassten Personen sind zum überwiegend Teil weiblich, 70% waren zum Zeitpunkt des Krankheitsbeginns unter 40 Jahre alt. ME/CFS ist eine Krankheit vor allem von jungen Frauen. Die Demografie entspricht damit früheren Erhebungen.

Nur ein geringer der Betroffenen kann weiterhin Vollzeit arbeiten. ME/CFS (und damit auch Long Covid) somit hat auch beträchtliche volkswirtschaftliche Auswirkungen.


Die Diagnose anhand der kanadischen Konsensus-Kriterien

In weiterer Folge fasst der Praxisleitfaden ein paar Schlüsselpunkt von Diagnostik und Therapie zusammen. Einen einfachen mittels einer Blutabnahme bestimmbaren Marker gibt es bekanntlich nicht. Die kanadischen Konsensus-Kriterien (CCC) sind nicht nur praktikabel als diagnostisches Instrument, sie bieten auch einen guten Vorstellung der verschiedenen Symptome von ME/CFS.

Die ersten fünf Symptomgruppen der CCC müssen vorhanden sein, damit die Kriterien für die Diagnose von ME/CFS erfüllt sind:

  1. Pathologische Fatigue, die über bloße Müdigkeit oder Erschöpfung hinausgeht. Herbert Renz-Polster und Carmen Scheibenbogen beschrieben die Fatigue in einem Artikel über Long Covid und ME/CFS so:
    1. "Der Begriff Fatigue bezeichnet eine zu den vorausgegangenen Anstrengungen unverhältnismäßige, durch Schlaf nicht zu beseitigende Erschöpfung, die sowohl körperlicher als auch geistiger und/oder seelischer Art sein kann. Sie ist damit von der klassischen Müdigkeit oder auch dem diffusen Begriff der „Erschöpfung“ klar abzutrennen."
  2. Post-Exertional Malaise (PEM) in der Beschreibung der Mitautorin Kathryn Hoffmann der Abteilung für Primary Care Medicine der MedUniWien:
    1. „PEM ist eine belastungsinduzierte, unverhältnismäßige Zustandsverschlechterung durch eine gestörte physiologische Aktivitäts-Erholungsreaktion. Die Verschlechterung und/oder das Aufkommen neuer Symptome (sog. „Crash“) treten unmittelbar oder oft zeitverzögert (12–72 Stunden) nach bereits geringer physischer, kognitiver, mentaler, orthostatischer oder sensorischer Belastung auf, die vormals toleriert wurde. Die Verschlechterung kann
      Stunden, Tage oder gar Wochen anhalten (unterschiedliche Übersichtsarbeiten sprechen von mind. 14–24 Stunden). Jeder „Crash“ birgt das potentielle Risiko einer permanenten Verschlechterung des Gesamtzustandes.“
  3. Schlafstörungen: Das Schlafbedürfnis ist erhöht, aber der Schlaf ist meist nicht erholsam, der Schlafrhythmus oft gestört.
  4. Schmerzen: Muskelschmerzen (Myalgien) haben es in den medizinischen Fachbegriff ME/CFS geschafft. Sie treten häufig, aber nicht immer auf. Bei vielen Betroffenen handelt es sich auch oder ausschließlich um Kopf- oder Gelenksschmerzen.
  5. Neurologische und kognitive Störungen: Hier fällt vieles drunter, was die Amerikaner so plastisch als Brain Fog, Gehirnnebel, bezeichnen. Konzentrationsschwierigkeiten, Wortfindungsstörungen etc. gehören dazu. Aber auch Muskelschwäche, Koordinationsstörungen etc. können auftreten.

Von den folgenden drei Symptomgruppen müssen zwei auftreten, um die Diagnosekriterien zu erfüllen:

  1. Dysautonomie, die Störung des autonomen Nervensystems, das wesentlich an der Steuerung von Herz und Kreislauf, aber auch z.B. der Verdauung beteiligt ist. Eine Störung kann zu Herzrasen, Schwindel etc. führen.
  2. Neuroendokrine Manifestation, bei denen das enge Zusammenspiel zwischen dem Nerven- und dem hormonellen System beeinträchtigt ist. Gestörtes Temperaturempfinden, pathologische Schweißausbrüche oder Appetitstörungen etc. können die Folge sein.
  3. Störungen des Immunsystems: Wiederkehrende Halsschmerzen, geschwollene Lymphknoten, Fieberschübe, häufige Infektionen etc.

Wünsche und Forderungen

Auf die weiteren Punkte der Diagnostik und auch auf die therapeutischen Möglichkeiten möchte ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen. Sehr wohl aber auf die abschließenden Empfehlungen und Forderungen, die sich sowohl an die Gesundheitsberufe als auch die Gesundheitspolitik richten:


Die Pandemie mag vorbei sein, COVID-19 ist es aber noch lange nicht. Und die Folgen durch Long Covid inklusive der schwersten Form ME/CFS erst recht nicht. Ganz zu Schweigen von dem, was schon vor COVID-19 an ME/CFS erkrankte Personen alles durchgemacht haben.

Der Praxisleitfaden fasst viele wichtige Punkt übersichtlich zusammen und kann so ein Startpunkt für die Ausbildung von uns Ärzt*innen und anderen Gesundheitsberufen und ein Aufruf an Behörden und Politik zur besseren Versorgung einer beträchtlichen Zahl von bisher meist nur stiefmütterlich behandelten Betroffenen sein.

Der Widerstand in Teilen der medizinischen Community ist stark, wie der eingangs erwähnte Artikel der Neurolog*innen der MedUniWien zeigt.