COVID-19 führt zu länger anhaltende Veränderungen des Immunsystems

Laut einer Publikation der MedUni Wien ist das Immunsystem 10 Monate nach COVID-19 gestört, möglicherweise durch eine Infektion der Stammzellen im Knochenmark.

COVID-19 führt zu länger anhaltende Veränderungen des Immunsystems

Die wichtigsten Punkte auf einen Blick

  • Noch 10 Monate nach einer milden Infektion mit SARS-CoV-2 sind verschiedene Zellreihen des Immunsystems im Blut reduziert.
  • Besonders ausgeprägt ist die Reduktion bei jungen Zellen des spezifischen Immunsystems.
  • Möglicherweise lässt sich dies durch eine Infektion der Stammzellen im Knochenmark erklären.
  • COVID-19 macht also unbestreitbar was mit dem Immunsystem. Die konkreten klinischen Folgen dieser Veränderungen sind allerdings noch kaum untersucht.

COVID-19 und das Immunsystem

Ich war im Urlaub und habe den Blog so wie vieles andere ruhen lassen. Jetzt stehe ich vor einem Berg interessanter, spannender Artikel. Einer der Artikel, die für mich aus der Menge herausragen, ist von einer Arbeitsgruppe der MedUni Wien publiziert worden. Es geht dabei darum, was für Änderungen des Immunsystems 10 Wochen nach COVID-19, vor allem aber nach 10 Monaten zu sehen sind. Die Ergebnisse sind meiner Meinung durchaus überraschend.

Zerstört SARS-CoV-2 das Immunsystem? Ist COVID-19 gar eine Art über die Luft übertragenes Aids? Oder ist das Immunsystem so was wie ein Muskel, der seine Kraft verliert, wenn er nicht benutzt wird - böse Masken? Im Jänner habe ich versucht, für mich selber und für die Leserinnen und Leser dieses Blogs ein paar Antworten zu COVID-19 und dem Immunsystem zu finden:

Hat die Pandemie unser Immunsystem zerstört?
Dass COVID-19 eine lang anhaltende, klinisch relevante Schädigung des Immunsystems hervorruft, scheint übertrieben. Airborne Aids sowieso.

Damals habe ich gelernt, dass nach einer COVID-19-Erkrankung tatsächlich viele Menschen eine Schwächung des Immunsystems erleiden, dass diese aber bei weitem nicht so ausgeprägt ist, dass das Gerede von airbourne Aids auch nur ansatzweise gerechtfertigt wäre.

An der in den letzten 1-2 Jahren beobachtete Zunahme von Infektionskrankheiten ist zwar möglicher durchaus eine Schwächung der Immunabwehr beteiligt, eine größere Rolle dürften aber sogenannte Nachholeffekte haben. Es waren einfach mehr Menschen empfänglich für bestimmte Viren. Mit einem fehlenden Training für das Immunsystem hat das aber nichts zu tun. Das Immunsystem braucht zum Glück kein Training, auch wenn das noch so oft behauptet wird.

Nun erschien aber eben ein Paper, in dem doch auch immunologische Veränderungen fast ein Jahr nach der COVID-19-Infektion beschrieben wurden, und zwar bei Personen mit mildem COVID-19 und ohne Folgeerscheinungen wie Long Covid.


Die Studie zu den Veränderungen des Immunsystems

Quelle https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/all.16210

Nun also zu der Studie selbst. Sie stammt von einer der profiliertesten basiswissenschaftlichen (= nicht klinischen) Forschungsgruppen der Medizinischen Universität Wien und wurde in Allergy, dem Fachjournal der European Academy of Allergy and Clinical Immunology, publiziert.

Die selbe Arbeitsgruppe veröffentlichte bereits im Oktober 2020 eine Arbeit, in der sie immunologische Blutmarker 10 Wochen nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 bei 106 Personen untersuchten ("Immunological imprint of COVID-19 on human peripheral blood leukocyte populations"). In der jetzigen Arbeit präsentierten sie bei denselben Personen erhobenen Blutmarker 10 Monate nach der Infektion. Verglichen wurden die Ergebnisse mit den Blutmarkern von 98 demografisch und gesundheitlich gut vergleichbaren Personen, die noch keinen Kontakt mit dem Virus gehabt hatten.

Die 106 Infizierten hatten zum überwiegenden Teil einen "milden" oder moderaten Verlauf von COVID-19 gehabt. Nur 2,3% erkrankten schwer oder kritisch. Die Infektionen traten alle zwischen Mai und Juli 2020 auf, also noch durch die ursprüngliche Wuhan-Virusvariante und Monate vor den ersten Impfungen. Reinfektionen wurden durch serologische Untersuchungen ausgeschlossen. Es handelt sich also in dem Sinne um einen reine Patientengruppe, als dass wirklich die Auswirkungen eines einzigen Kontakts mit dem Virus untersucht wurden.

Die wichtigsten Ergebnisse der Studie

Die Gesamtzahl der weißen Blutkörperchen ist nach 10 Wochen noch kaum geringer als bei den Nicht-Infizierten, nach 10 Monaten aber signifikant reduziert. Das betrifft nicht nur einen Zelltyp, sondern mit den Granulozyten, den Monozyten und den Lymphozyten gleich drei der großen Familien der weißen Blutkörperchen.

Zahl der weißen Blutkörperchen insgesamt, der Granulozyten, der Monozyten und der Lymphozyten (von links nach rechts) 10 Wochen und 10 Monate nach COVID-19 im Vergleich zu gesunden Kontrollgruppe (HC). Die Zahl der Sternchen gibt die Signifikanz des Unterschieds an (*p < .05, **p < .01, ***p < .001, ****p < .0001), ns: kein signifikanter Unterschied.

Die Lymphozyten, die wesentlich an der Steuerung der spezifischen Immunantwort beteiligt sind, wurden anhand einer Reihe Oberflächenmarkern weiter differenziert. Dabei stellten die Forscher:innen fest, dass die Zahl der ganz jungen Lymphozyten nach 10 Monaten besonders stark abgefallen war. Im Falle der jungen T-Helferzellen um die Hälfte. Sie erkennen spezifische Erreger und alarmieren quasi jene Abwehrzellen, die die Erreger bzw. infizierte Zellen zerstören. Die jungen zytotoxischen T-Zellen, die von Viren infizierte Zellen besonders rasch erkennen und den Zelluntergang einleiten können, sind nach 10 Monaten immerhin um ein Drittel reduziert.

Zahl der jungen Lymphozyten insgesamt, der jungen T-Helfer-Zellen und der jungen zytotoxischen T-Lymphozyten (von links nach rechts) 10 Wochen und 10 Monate nach COVID-19 im Vergleich zu gesunden Kontrollgruppe (HC). Die Zahl der Sternchen gibt die Signifikanz des Unterschieds an (*p < .05, **p < .01, ***p < .001), ns: kein signifikanter Unterschied.

Auch eine weitere Gruppe von Lymphozyten, die sogenannten B-Gedächtniszellen war signifikant reduziert. Ihre Aufgabe ist es, wenn sie auf einen schon bekannten Erreger treffen, sofort mit der massenhaften Produktion von spezifischen Antikörpern zu beginnen.

Zusammengefasst war also auffallend, dass die Zahl der Immunzellen im Blut nach 10 Wochen, also recht knapp nach der Infektion, großteils normal oder - besonders bei den schwerer erkrankten Personen - als Zeichen der laufenden Aktivierung des Immunsystems erhöht waren. Nach 10 Monaten waren aber fast alle Gruppen von Immunzellen deutlich reduziert - ein Hinweis darauf, dass eine einzige SARS-CoV2-Infektion einen lange anhaltenden Effekt auf die körpereigene Abwehr haben kann.

Die Autorinnen und Autoren stellen anhand ihrer Forschungsergebnisse die Hypothese auf, dass dem zugrunde eine Infektion jener hämatopoetischen Stammzellen im Knochenmark liegen könnte, aus der sich alle Linien der weißen Blutkörperchen entwickeln. Immerhin exprimieren diese Stammzellen ACE2, das das SARS-CoV-2-Virus nutzt, um in Zellen einzudringen. Dadurch - so die Hypothese - können nicht so viele Zellen nachgebildet werden wie bei nicht-infizierten Personen.


Was bedeutet das alles konkret?

Ich bin bekanntlich Kliniker. Als solcher denke ich im Allgemeinen einfacher als zum Beispiel nicht-klinische Immunologen. So interessant ich die Erkenntnisse der Kollegen aus der Basiswissenschaft auch finde, so gerne habe ich es zu deren besseren Einordnung, wenn all die oft schwer verständliche Forschung sich in fassbaren klinischen Resultaten niederschlagen.

Die Arbeit der Wiener Forschungsgruppe liefert einen klaren Hinweis, dass eine Erkrankung an COVID-19 nicht nur zu anhaltenden Veränderungen und Schäden der Blutgefäße, des Nervensystems, des Verdauungssystems und nicht zuletzt der Lungen führen kann, sondern auch des Immunsystems. Und zwar nicht nur für einige Wochen, sondern für mindestens 10 Monate - wahrscheinlich sogar deutlich länger. Und wohlgemerkt waren fast alle Probanden nur mild bis moderat an COVID-19 erkrankt. Es handelte sich also nicht etwa um die fast unweigerlichen Folgen einer schweren Akutkrankheit.

Für eine echte Einschätzung der konkreten klinischen Folgen dieser Ergebnisse fehlt mir aber definitiv das immunologische Rüstzeug. Die Hypothese, dass SARS-CoV-2 seinen Schaden ganz an der Basis, nämlich bei den Stammzellen im Knochenmark setzt, halte ich jedenfalls für nachvollziehbar und für durchaus beunruhigend.

Die hier untersuchten Infektionen traten alle 2020 durch die ursprüngliche Wuhan-Variante auf. Ob und wie sehr einerseits Impfungen diese Veränderungen abschwächen sowie was für Auswirkungen wiederholte Infektionen haben, ist nicht untersucht.

Eine Bewertung des Papers durch unabhängige Experten habe ich leider noch nicht gefunden. Es würde mich interessieren, was die immunologische Community davon hält.

Vermutlich hält die schon im früheren Blogartikel zitierte Einschätzung von Emanuel Wyler vom Max Delbrück Center für Molekulare Medizin (Quelle):

"Auf einer Skala, auf der ein Rhinovirus kaum bis keinen Schaden am Immunsystem anrichtet und HIV es komplett zerstört, würde ich Sars-CoV-2 […] irgendwo in der Mitte verorten."

Und das halte ich eigentlich für keine gute Nachricht.