[Update] COVID-19 und was es mit dem Gehirn macht
COVID-19 verschlechtert die Kognition und das Gedächtnis, aber nicht sehr - außer bei Long Covid. Außerdem: Makaken und Steinwerkzeuge!
Vor nicht einmal zwei Wochen habe ich in einem Blogartikel zwei Studien mit jeweils rund 300 Probanden vorgestellt, bei denen die Hirnleistung nach COVID-19 untersucht worden sind. Es waren zwei sorgfältig gemachte, interessante Studien. Dabei wurden sowohl bei Personen mit Long Covid als auch bei Personen nach einem schweren Verlauf von COVID-19 kognitive Defizite festgestellt.
Nun ja, vielleicht hätte ich damit besser ein paar Tage warten sollen, denn in der aktuellen Ausgabe des medizinischen Topjournals New England Journal of Medicine erschienen zwei weitere Studien zu diesem Thema. Allerdings nicht mit 300 Studienteilnehmern, sondern mit 141.583 bzw. 111.992.
Deshalb ein kurzes Update zum vorigen Blogartikel.
Die britische Studie
Hier wurden 800.000 erwachsene Briten zur Teilnahme eingeladen, von denen 141.583 mitmachten und 112.964 die Studie abschlossen. Das Ergebnis wurde am 29.02.2024 im NEJM publiziert ("Cognition and Memory after Covid-19 in a Large Community Sample"). Die Teilnehmer mussten dabei online eine Reihe von kognitiven und Gedächtnisaufgaben lösen, woraus ein individueller Score errechnet wurde. Die Scores verschiedener Gruppen wurden miteinander verglichen.
Im Vergleich zur Gruppe der Personen ohne vorige COVID-19-Erkrankung hatten jene nach der Infektion laut dem errechneten Global Cognitive Score eine etwas geringere kognitive Leistung. Am deutlichsten war das bei jenen die nach über 12 Wochen noch Symptome angaben und somit die Kriterien für Long Covid erfüllten. Weiters schnitten Personen mit einem schweren Verlauf schlechter ab, und eine Infektion zu Beginn der Pandemie mit dem Wildtyp und der Alpha-Variante führt zu einer stärkere kognitiven Einschränkung als später bei Delta und Omikron. (Letzteres wurde auch in anderen Studien zu Folgekrankheiten beobachtet. Vermutlich eine Folge der Teilimmunität durch Impfungen und frühere Infektionen.)
Die Autoren setzten die kognitive Verschlechterung bei den Personen ohne anhaltende Symptome mit 3 Punkten in einem IQ-Test gleich, die bei Personen mit anhaltenden Symptomen mit 6 Punkten. Bei Personen, die wegen COVID-19 auf die Intensivstation mussten sind es sogar 9 Punkte.
Die norwegische Studie
In der selben Ausgabe des NEJM wurden die Ergebnisse einer norwegischen Studie veröffentlicht, allerdings nur als Correspondence ("Prospective Memory Assessment before and after Covid-19"). Fast 120.000 Teilnehmer - je zur Hälfte mit bzw. ohne COVID-19 - führten Gedächtnistests durch ("Everyday Memory Questionnaire"). Ein höherer Score bedeutet hier eine schlechtere Gedächtnisleistung. Auch hier schnitt die Gruppe mit COVID-19 etwas schlechter ab als die nicht-Infizierten.
Was bedeutet das?
Studien mit so einer großen Zahl an Probanden haben einen Vorteil, der auch als Nachteil gesehen werden kann. Während in kleineren Studien geringe Unterschiede kaum oder gar nicht sichtbar werden, werden hier aufgrund der enormen Zahl an Teilnehmern selbst kleine Unterschiede viel eher statistisch signifikant. Statistische Signifikanz ist einer Frage der Mathematik. Sie bedeutet in medizinischen Studien nicht zwangsläufig, dass das Ergebnis auch klinisch signifikant ist.
Das erklärt vielleicht auch, warum die Ergebnisse dieser beiden Studien sehr unterschiedlich rezipiert werden. Während sie - vor allem in den sozialen Medien - so interpretiert werden, dass wir durch COVID-19 alle unser Gedächtnis verlieren würden, sprechen selbst die Autoren der britischen Studie von "geringen Defiziten bei der kognitiven Leistung" - zumindest bei den Personen ohne Long Covid. Tatsächlich fällt es mir schwer, mir unter einer Verschlechterung des IQ um 3 Punkte etwas Konkretes vorzustellen.
Wahrscheinlich geht es um die Frage, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist. Die Antwort darauf hängt in erster Linie von persönlichen Einstellungen ab.
- Die Daten sind eindeutig: Die beiden Studien bestätigen die Befürchtung, dass COVID-19 etwas mit dem Gehirn macht. Und zwar auch bei Personen, die sich scheinbar vollständig von der Infektion erholt haben. Das ist angesichts der vielen Erkenntnisse aus kleineren Studien keine Überraschung, was es aber kein bisschen weniger beängstigend macht.
- Die Verschlechterung ist aber gering - zumindest bei Personen ohne Long Covid und ohne einen sehr schweren Verlauf von COVID-19. Ob die Verschlechterung anhaltend ist oder sich mit der Zeit ausgleicht, wissen wir noch nicht. Jedenfalls ist die Behauptung, wir würden durch die Pandemie alle innerhalb weniger Jahre in der Demenz enden genauso substanzlos wie das Gerede von COVID-19 als "airborne AIDS".
Ich wähle jedenfalls den Mittelweg: Die Studienergebnisse sollten ernst genommen werden, sind aber kein Grund, in Panik zu verfallen. Und Long Covid sollten wir sowieso sehr ernst nehmen.
Wie eine Makakenart durch die Pandemie lernte, Steine als Werkzeug zu benutzen
Jetzt also zu den Affen.
Die Langschwanzmakaken auf einer kleinen thailändischen Insel waren es jahrelang gewöhnt, von den zahlreichen Touristen gefüttert zu werden. Sie lebten quasi im Schlaraffenland. (Merkt ihr das Wortspiel???) Als COVID-19 im Jahr 2020 zum Zusammenbruch des Tourismus führte, machte sich unter den Affen Hunger breit. Thailändische Biologen publizierten nun ein Verhalten, das zuvor noch nie bei dieser Makakenart beobachtet worden ist: Einige von ihnen lernten selbständig das Knacken von Felsenaustern mit Steinen als Werkzeug und gaben ihre neue Fertigkeit offenbar an andere Makaken weiter. Die Forscher konnten also quasi beobachten, wie die Makaken sich zur frühen Steinzeit weiterentwickelten.
Als jemand mit einem Faible für nutzloses Wissen finde ich diese Beobachtung großartig.