Das Virus in uns. Oder: Viruspersistenz als ein Mechanismus von Long Covid.

Das Virus in uns. Oder: Viruspersistenz als ein Mechanismus von Long Covid.

Substack-Artikel vom 11.05.2023:

Ein pathophysiologisches Modell im Lancet. Und die Frage, ob es nicht eigentlich zwei Hauptformen von Long Covid gibt.


In der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet Respiratory Medicine erschien gestern ein pathophysiologisches Modell für Long Covid von vier kanadischen Medizinern, genauer gesagt über einen der Hauptmechanismen der Entstehung dieses Krankheitsbildes: Der Persistenz von SarsCov2-Viren im Körper.

Die vier Hauptmechanismen der Entstehung von Long Covid

In einem früheren Blogbeitrag zu Long Covid stellte ich schon einmal die Zusammenfassung der in Yale arbeitenden Immunologin Akiko Iwasaki zu diesem Thema vor. Sie stellte in einem frei online abrufbaren Vortrag vor fast auf den Tag genau einem halben Jahr die vier Hauptmechanismen der Entstehung von Long Covid vor.

Neben der Viruspersistenz / Virusreservoir und auch Persistenz von pathogenen Virusbestandteilen (“viral PAMPs”) sind dies eine durch die Infektion getriggerte Autoimmunreaktion, eine Reaktivierung von latenten Infektionen mit anderen Viren sowie auch direkte Schädigung von Geweben und/oder Organen durch COVID-19. Schon damals waren diese Mechanismen nicht etwa nur Hypothesen, es gab für alle vier bereits gute Belege durch in hochklassigen Fachzeitschriften publizierte, peer-reviewte Artikel. An diesem Modell hat sich im letzten halben Jahr nichts Grundlegendes geändert, es wurde nur die Evidenz seither noch dichter.

Viruspersistenz und die Folgen

Im nun erschienenen Lancet-Artikel wird ein Überblick über die Viruspersistenz als ein Mechanismen von Long Covid beleuchtet. In ihrem Modell gehen die Autoren - untermauert durch zahlreiche Studien - von einer Dysregulation des Immunsystems als Folge dieser Viruspersistenz aus, was wiederum zu chronischen Entzündungsreaktionen, Schädigung des immunologisch hochaktiven Endothels (der innersten Schicht der Blutgefäße) mit einer Störung der mit dem Immunsystem eng verknüpften Blutgerinnung und der Entstehung von Mikrothromben kommt. Das Zusammenspiel dieser systemischen Faktoren wäre eine Erklärung für die fast den ganzen Körper betreffenden Symptome von Long Covid-Kranken.

Possible pathogenic mechanisms of persistent virus that might lead to chronic inflammation, immune dysfunction, microvascular endothelial damage, and microthrombosis seen in long COVID.

Hypothese zur Einteilung von Long Covid

Ich frage mich angesichts dieses Modells und der vier Hauptmechanismen von Akiko Iwasaki, ob man das Krankheitsbild Long Covid nicht vereinfacht in zwei grundsätzliche Untergruppen aufteilen könnte oder sogar sollte. Die Immunprozesse der Viruspersistenz sind eng mit jenen der Autoimmunität verknüpft und können diese teilweise auslösen. Die durch die Dysregulation des Immunsystems getriggerte Reaktivierung anderer Viren hat teils ähnlich Folgen wie die SarsCov2-Persistenz.

Davon abgegrenzt könnte man die Folgen der direkten Organschädigung bei COVID-19 interpretieren. Führt man das weiter, kommt auf folgende zwei Untergruppen von Long Covid, die beide die WHO Definition von Long Covid als “das Fortbestehen oder die Entwicklung von Symptomen 3 Monate nach einer SarsCoV2-Infektion, wobei diese Symptome ohne andere Erklärung mindestens 2 Monate anhalten” erfüllen, diagnostisch und therapeutisch aber relevante Unterschiede aufweisen würden:

  • Einerseits jene Betroffenen, die nach einem meist eher schwereren Verlauf von COVID-19 an anhaltenden Symptomen durch die Gewebsschädigung im Rahmen der Virusinfektion bzw. vor allem auch durch die darauf folgende Immunreaktion leiden. Zum Beispiel durch eine Lungenfibrose oder Vernarbungen bei der Post-Covid-Lunge.
  • Der andere Teil sind jene Personen, die nach einem oft recht milden Verlauf von COVID-19 recht rasch genesen waren, aber in der Folge die Symptome von Long Covid entwickelten. Das sind jene, deren Erkrankung in die Richtung des Chronic Fatigue Syndroms geht oder die das Vollbild von ME/CFS erleiden. Mit all den Folgen, über die ich ebenfalls schon im Blog geschrieben habe.

Die Realität ist meistens komplizierter als eine schematische Einteilung. Oft werden überlappende Mechanismen zusammenkommen. Aber durch die Schematisierung tun sich neue Optionen für therapeutische Modelle auf. Bei der Viruspersistenz sind das zum Beispiel die bereits laufenden Studien mit Nirmatrelvir/Ritonavir (=Paxlovid®).

Und: Redet immer noch wer von “psychosomatisch”?