Der derzeitige Stand des Wissens zu den Ursachen von Long Covid

Der derzeitige Stand des Wissens zu den Ursachen von Long Covid

Substack-Artikel am 25.07.2023:

Spoiler: Psychische Ursachen gehören nicht dazu.


Ein Review ist in der Wissenschaft ein Fachartikel, in dem Erkenntnisse zu einem bestimmten Thema zusammengefasst und meist in einen größeren Kontext gesetzt werden.

In den letzten Wochen erschienen zwei Reviews, die sich damit beschäftigen, was für Folgen eine Infektion mit COVID-19 im Körper und insbesondere im Gehirn mit sich bringen kann und wie diese zustande kommen. Für diejenigen, die Long Covid und andere Folgen einer Infektion mit SARS-CoV-2 immer noch als primär psychisch oder psychosomatisch bedingt bezeichnen, wird die Luft immer noch dünner.


Die Immunologie von Long Covid

In einem im Nature-Verlag erschienenen Review zur Immunologie von Long Covid fasst eine Gruppe von Wissenschaftler:innen aus UK rund um Danny Altmann den aktuellen Stand der Forschung zu den immunologischen Ursachen von Long Covid zusammen und setzt diese in einen Zusammenhang mit ME/CFS.

Detailliert beschreiben sie die Evidenz zu den verschiedenen bisher beschriebenen Mechanismen:

  • Organschäden im Zielgewebe mit Funktionseinbußen, z.B. Veränderungen des Lungengewebes.
  • Persistierende Virus- oder Antigenreservoirs mit anhaltender Immunaktivierung und Entzündungsprozessen.
  • Reaktivierung latenter Viren im Körper wie zB. des Epstein-Barr-Virus (EBV) mit eigenen, komplexen Folgen.
  • Veränderungen der systemischen Immunität mit Folgen, die von endothelialer Aktivierung bis zu veränderten allergischen Profilen reichen.
  • Aktivierung oder Dysfunktion des Gefäßendothels mit Auswirkungen auf Blutplättchen und Blutgerinnung, was u.a. zur Bildung von Mikrothromben und zum gestörten Gasaustausch im Gewebe führen kann.
  • Aktivierung von Mastzellen mit der Ausschüttung von pathologischen Mengen an Histamin, was zu einer breiten Pallette an allergieähnlichen Symptomen führen kann.
  • Autoimmunität; autoimmune Antikörper und/oder T-Zellen können eine Reihe von Folgeerkrankungen triggern, einschließlich dem Syndrom der posturalen orthostatischen Tachykardie (POTS), Myokarditis und Neuroinflammation
  • Veränderungen des Gehirns als Folge der Infektion selbst un/oder von Immunprozessen
  • Störung des Mikrobioms (früher simplifiziert “Darmflora” genannt) mit veränderter metabolischer Interaktionen mit Körpersystemen, einschließlich des Immunsystems.

Eine verdammt lange Liste an Ursachen für Long Covid und andere Folgeerkrankungen von COVID-19. Und all diese Punkte sind nicht etwa bloß Hypothesen, sondern durch Forschungsergebnisse der letzten 3 Jahre untermauerte pathologische Mechanismen. Es besteht kein Mangel an Studien, das Problem ist viel mehr die Komplexität und die Heterogenität der Grundlagen von Long Covid.

Oder wie es die Autoren formulieren:

Die Belastung, die Long COVID für Patienten, Gesundheitsdienstleister, Regierungen und Volkswirtschaften mit sich bringt, ist so groß, dass sie kaum vorstellbar ist, was möglicherweise der Grund dafür ist, dass derzeit nur minimale Planungen auf höchster Ebene dafür vorgesehen sind. Wenn 10 % der akuten Infektionen zu anhaltenden Symptomen führen, könnte man davon ausgehen, dass weltweit etwa 400 Millionen Menschen Unterstützung für Long COVID benötigen. Die größten Unbekannten bleiben das vernetzte Schema der Pathogenese und damit die besten Therapiekandidaten, die in randomisierten kontrollierten Versuchen erprobt werden können, sowie ein besseres Verständnis des Zeitverlaufs der Genesung und der Faktoren, die diese beeinflussen. Einige Länder haben in einer ersten Runde Mittel für die Pilotuntersuchungen bereitgestellt. Ausgehend von den obigen Ausführungen wird noch viel mehr benötigt werden.
Hinweis: deutsche Übersetzung als ALT-Text

Langfristige Auswirkungen einer SARS-CoV-2-Infektion auf Gehirn und Gedächtnis

In einem Ende Juni ebenfalls im Nature-Verlag erschienen Review fassen zwei chinesische den aktuellen Kenntnisstand darüber zusammen, wie es bei COVID-19 zur Infektion von Gehirnregionen kommen kann und was das mit dem Gedächtnis anstellt.

Sie beschreiben drei potentielle Wege der Infektion von den Schleimhäuten der oberen Atemwege zum Gehirn.

  • Der direkte Weg über die Riechnerven. Diese führen - anders als die sonstigen Hirnnerven - direkt und ohne Zwischenschaltung - ins Gehirn. Der recht häufig mit COVID-19 verbundene teilweise oder völlige Verlust des Riechvermögens fiel schon ganz zu Beginn der Pandemie auf und ist ein Hinweis auf den direkten Zugang von SARS-CoV-2 zum Gehirn.
  • Wenn durch die Ausbreitung der Infektion in den Körper, v.a. in die Lunge, genug hohe Virustiter im Blut erreicht werden, kann es den Viren gelingen, die das Hirn schützende Blut-Hirn-Schranke durch Ausnützen von bestimmten Rezeptoren oder auch durch eine pathologische Störung der Schranke zu überwinden und ins Gehirn einzudringen.
  • Ein dritter möglicher Weg ist die Eintrittspforte über die Augen. Das Tragen von Schutzbrillen im Spital im Umgang mit COVID-19-Kranken hat seinen Sinn.

In der Folge beschrieben die Autoren den Stand der Wissenschaft zur Frage, wie SARS-CoV-2-Infektion das menschliche Gehirn und das Gedächtnis beeinträchtigt.

Die Immunreaktion auf die Infektion kann zu direkter negativer Beeinflussung im Gehirn führen. Die Viren können zum “Verkleben” von Nervenzellen führen (“Synzytien”), die daraufhin absterben. Die Viruspersistenz von SARS-CoV-2 kann zu chronischen Infektionen führen. Mikroembolien in den Hirngefäßen können zu direkten Schäden führen und auch eine Immunreaktion triggern.

Fig. 1

Die Folgerung der Autoren:

Präventionsstrategien (einschließlich Impfung, antivirale und symptomatische Behandlung, Tragen einer Maske, geeignete Übungen, regelmäßiger Schlaf und ausgewogene Ernährung) sind wichtig, um die Risikofaktoren einer SARS-CoV-2-Infektion für das menschliche Gehirn und das Gedächtnis zu verringern, insbesondere bei Kindern, da sie noch jung sind und sich ihr Gehirn noch in einem frühen Stadium der Entwicklung befindet.   Long Covid-Symptome können das tägliche Leben [von Kindern] noch mehr zerstörend beeinflussen und langfristige Auswirkungen haben, wie z. B. den Verlust von Gedächtnisfähigkeiten, der ihre Lernleistung und ihr Selbstvertrauen erheblich beeinträchtigen kann, bevor sie erwachsen werden. Insgesamt können weitere Studien und Kenntnisse über die Verringerung der Risiken einer SARS-CoV-2-Infektion und die Prävention einer SARS-CoV-2-Infektion uns wirksamer vor einer SARS-CoV-2-Infektion schützen.
Hinweis: deutsche Übersetzung als ALT-Text.