Die Impfung, die vor Demenz schützt

Die Zoster-Impfung scheint kosteneffizient vor der Demenz zu schützen und die Progression besser zu verlangsamen als die etablierten Demenz-Medikamente.

Die Impfung, die vor Demenz schützt
  • Laut einer neuen, clever designten Studie senkt die Impfung gegen die Gürtelrose (Herpes zoster) das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, um 20%.
  • Allerdings wird dieser Effekt (fast) nur bei Frauen beobachtet, obwohl die Wirkung gegen die Gürtelrose bei Männern und Frauen in etwa gleich groß ist.
  • Neben der Unterdrückung der Varicella-Zoster-Viren dürfte die Wirkung auch auf Virus-unabhängige immunmodulatorische Mechanismen zurückzuführen sein.
  • Eine Aufnahme der Zoster-Impfung in das Gratisimpfprogramm wäre wünschenswert.

Es ist schon eine Zeit her seit dem letzten Blogartikel. Ich bin derzeit neben meinem Brotjob im Spital zusätzlich mit einem anderen Projekt beschäftigt. Sorry dafür.

Jetzt habe ich wieder einmal Zeit gehabt. Das Thema dieses Art ging vor einem Monat durch einige Medien. Ich halte die Studie aber für spannend genug, auch mit etwas Verzögerung hier darüber zu berichten.


Impfung gegen die Demenz?

Ja, es mag wie eine Übertreibung klingen, aber jetzt behaupten wir Impffanatiker auch noch, dass es Impfungen gebe, die vor Demenz schützen. Aber was soll man tun, wenn es gute Evidenz dafür gibt. Anfang April erschien eine Studie, die genau das im Falle der Impfung gegen Herpes zoster (die Gürtelrose) nahelegt. Sie wurde in keinem obskuren Journal publiziert, sondern im Nature, einer der prestigeträchtigsten wissenschaftlichen Fachzeitschriften überhaupt.

Hinweise dafür, dass Impfungen ganz allgemein gesprochen das Risiko reduziert, dement zu werden, gab es schon länger. Interessanterweise waren Behauptungen von Impfgegnern, die genau das Gegenteil behaupteten - nämlich dass Impfung eine Ursache für die Demenz wären, der Anlass sich das genauer anzuschauen. Einzelne Studien zu Impfstoffen schauten auch das Auftreten von Demenz an. Sie fanden nicht nur keinen Hinweis, dass die Behauptung der Impfgegner irgendwas mit der Realität zu tun hat, sondern im Gegenteil, dass eine Reihe von Impfungen sogar einen gewissen Schutz vor der Demenz liefern könnten, wie in einem Artikel von 2022 zusammengefasst wird ("Adult Vaccination as a Protective Factor for Dementia: A Meta-Analysis and Systematic Review of Population-Based Observational Studies").

Besonders gut korrelierten die Impfungen gegen die Influenza und gegen die Gürtelrose sowie die Kombiimpfung gegen Tetanus, Diptherie und Keuchhusten mit dem verminderten Auftreten von Demenz. Das waren wie gesagt Hinweise, aber keine Beweise. Die Studien zeigten Korrelationen, aber keine kausalen Zusammenhänge.


Das natürliche Experiment mit der Zoster-Impfung

Mit der Anfang April erschienen Studie geht einen Schritt weiter und kommt einem Beweis schon sehr nahe. Denn die Studie ist sehr sorgfältig gemacht, mit einem wirklich cleveren Versuchsaufbau.

Der Gold-Standard zur Feststellung der Wirkung eines Medikamentes ist die doppelblinde, randomisierte Studie, bei der die Probanden zum Studienbeginn zufällig in die Verum-Gruppe, die das wirkliche Medikament erhält, eingeteilt werden, oder in die Kontrollgruppe, die je nach Fragestellung ein Placebo oder ein etabliertes Medikament mit bekannter Wirksamkeit erhält, ohne dass die Probanden und die Untersucher ihre Gruppe kennen. Erst nach Ende der Studie wird für die Auswertung "entblindet".

In einer Studie zu Impfungen und Demenz wäre das ethisch nicht verantwortbar, da der Placebo-Gruppe jahrelang ein gegen die Infektion erwiesenermaßen wirksame Impfung vorenthalten würde. Die Autor:innen wählten einen anderen Weg: eine Art natürliches Experiment.

A natural experiment on the effect of herpes zoster vaccination on dementia - Nature
Using a natural experiment that avoids common bias concerns, this study finds that the live-attenuated shingles vaccine reduced the probability of a new dementia diagnosis within a follow-up period of 7 years by approximately one-fifth.

In Wales wurde 2013 ein Lebendimpfstoff gegen die Gürtelrose verfügbar. Aus Kapazitätsgründen wurde entschieden, dass nur Menschen mit dem Geburtstag ab dem 2.9.1933 die Impfung im Gratisimpfprogramm kriegen konnten. Wer davor geboren ist, erhielt die Impfung nicht. Entsprechend ließen sich 47,2% in der ersten Gruppe impfen, in der zweiten Gruppe, die den Impfstoff selbst bezahlen mussten, waren es dagegen nur 0,01%. Für die Studie wurden erhoben, wie viele in den zwei Gruppen, die sich einzig dadurch unterschieden, ob sie knapp vor oder knapp nach dem 2.9.1933 geboren sind, im Beobachtungszeitraum von 7 Jahren neu eine Demenz diagnostiziert bekamen. (Zwischen den verschiedenen Formen der Demenz wurde dabei nicht unterschieden.)

Der Unterschied war beeindruckend. Nach statistischer Bereinigung hatten die Personen in der Gruppe der Geimpften eine um 3,5 Prozentpunkte niedrigere Wahrscheinlichkeit einer Demenzdiagnose. Die relative Risikoreduktion betrug 20,0%. In der folgenden Grafik sieht man den Unterschied eines Geburtstages vor oder nach dem 2. September 1933. (Es handelt sich also nicht um einen direkten Vergleich je nach Impfstatus. Bei letzterem wäre der Unterschied in der Grafik noch deutlich größer gewesen.)

Die Wahrscheinlichkeit einer neuen Demenzdiagnose abhängig davon, ob man Zugang zur Gratisimpfung hatte.

Auffallend war dabei ein ausgesprochen großer Geschlechtsunterschied. Die gegen Zoster geimpften Frauen hatten eine um 5,9% geringere Wahrscheinlichkeit einer Demenzdiagnose als die Frauen ohne Impfung, während es bei Männern keinen signifikanten Unterschied zwischen Geimpften und Ungeimpften gab. Vielleicht ein kleines bisschen ausgleichende Gerechtigkeit für den Umstand, dass Demenz bei Frauen laut einigen epidemiologischen Erhebungen fast doppelt so häufig auftritt wie bei Männern.

Warum das so ist, führt uns zu den Spekulationen, warum die Impfung - zumindest bei Frauen - eine Demenz verhindern kann. Naheliegend ist natürlich das Varicella-Zoster-Virus selbst. Dieses befällt Nervenzellen, und es gibt Hinweise auf eine Assoziation des Virus mit Demenz. Häufigere Episoden von Gürtelrose sind mit einem höheren Risiko einer Demenzerkrankung assoziiert; eine Behandlung der Infektion mit antiviralen Medikamenten führt reduziert dieses Risiko. Es wäre also eine naheliegende Vermutung, dass die Impfung durch die Unterdrückung einer Virusreaktivierung, die auch asymptomatisch verlaufen kann, ihren Effekt auf die Demenz hat.

Der Unterschied der Wirkung bei Männern und Frauen könnte aber auch ein Hinweis auf einen vom Virus unabhängigen Effekt auf das Immunsystem sein. Obwohl die Impfung eine Gürtelrose bei Männern und Frauen ähnlich effizient verhindert, gibt es den Unterschied bei der Demenz. Das könnte an unterschiedlichen immunmodulatorischen Einflüssen auf das Immunsystem von Männern und von Frauen liegen, wobei wir hier schon recht weit in der Welt der Spekulationen sind. Es ist eine Aufgabe der Basiswissenschaft, die genauen Mechanismen zu klären.

Zwei weitere Punkte:

In dieser Studie wurden die Demenzdiagnosen aus den elektronischen Gesundheitsakten erhoben, die Personen wurden nicht eigens auf eine Demenz getestet. Die tatsächliche Zahl der erkrankten Personen dürfte aufgrund einer Unterdiagnose höher sein als die laut den Gesundheitsdaten erhobene, was bedeuten könnte, dass der tatsächliche protektive Effekt noch größer sein dürfte.

Die Autor:innen bemühten sich sehr, etwaige andere epidemiologische Faktoren auszuschließen, was ihnen sehr gut gelungen zu sein scheint. Der beste Hinweis für einen tatsächlichen Effekt ist aber, wenn in einer anderen Weltregion ähnliche Ergebnisse erzielt werden und die Studienergebnisse so bestätigt werden. Das geschah schon wenige Wochen später durch eine australische Studie ("Herpes Zoster Vaccination and Dementia Occurrence"). Auch hier wurden Personen verglichen, die knapp vor oder nach dem Stichtag für die Impfungen geboren wurden. Die Resultate bestätigten die Ergebnisse der ersten Studie.

Aber wir haben doch einen anderen Zoster-Impfstoff!

Der Lebendimpfstoff, der in beiden Studien verwendet wurde, ist nicht mehr State of the Art und in Österreich gar nicht mehr erhältlich. Empfohlen wird jetzt der rekombinante Totimpfstoff Shingrix®. Das ist eine gute Nachricht, wenn es um den Herpes zoster geht, denn dagegen ist er zu über 90% wirksam.

Und wahrscheinlich ist er auch gegen die Demenz wirksamer als der frühere Lebendimpfstoff. Zumindest legt das eine Studie nahe, in der die beiden Impfstoff verglichen wurden ("The recombinant shingles vaccine is associated with lower risk of dementia"). Mit Shingrix geimpfte Personen hatten etwas seltener bzw. später eine Demenzdiagnose im Vergleich zu den mit dem Lebendimpfstoff Geimpften. Auch hier war der Effekt bei den Frauen stärker, aber die Männer profitierten in geringerem Ausmaß ebenfalls.


Was bedeutet das in der Praxis?

Die Studie ist kein Beweis, dass die Impfung gegen Herpes zoster das Risiko für eine Demenz vermindert, kommt dem aber sehr nahe - zumindest bei Frauen.

Herpes zoster, auf Deutsch die Gürtelrose, ist eine oft sehr schmerzhafte Erkrankung, die - vor allem wenn zu spät oder gar nicht behandelt - zu chronischen Schmerzsyndromen führen kann, die nur sehr schwer zu therapieren sind und die Lebensqualität der Betroffenen nachhaltig beeinträchtigt. Das alleine wäre schon ein guter Grund, sich dagegen impfen zu lassen. Wer sich dafür entscheidet, senkt wahrscheinlich zusätzlich das Risiko für eine Demenz - zumindest, wenn man eine Frau ist.

Die derzeit verfügbaren Medikamente gegen Demenz sind - (Neurologen diesen Absatz bitte überspringen...) - klinisch kaum wirksam, dafür aber umso reicher an Nebenwirkungen. Die Zoster-Impfung scheint sowohl weitaus wirksamer als auch kostengünstiger bei der Vorbeugung oder Verzögerung von Demenz sein als die Medikamente, die wir derzeit sonst zur Verfügung haben.

Im begleitenden Editorial (Bezahlschranke) schreibt Anupam Jena von der Harvard Medical School:

Die Implikationen der Studie sind tiefgreifend. Der Impfstoff könnte eine kosteneffiziente Intervention darstellen, die einen Nutzen für die öffentliche Gesundheit hat, der weit über den beabsichtigten Zweck hinausgeht.

Wer kann den Impfstoff überhaupt bekommen? Das Nationale Impfgremium gibt im Impfplan Österreich folgende Empfehlung ab:

Erwachsenenimpfung Eine Impfung gegen Herpes Zoster (HZ) ist für Personen ab dem vollendeten 50. Lebensjahr zugelassen und wird ab dem vollendeten 60. Lebensjahr allgemein empfohlen.  Zudem ist die Impfung zugelassen und empfohlen für Personen ab dem vollendeten 18.  Lebensjahr mit erhöhtem Risiko für HZ. Es ist keine Prüfung des Immunitätsstatus vor der  Impfung notwendig.

Leider ist der Impfstoff nicht bei den Gratisimpfungen inkludiert und kostet für zwei notwendige Stiche insgesamt satte 500€. Bemühungen verschiedener Verbände, dies zu ändern, laufen.


Zum Abschluss soll in Anbetracht des Namens dieses Blogs eine Infektion nicht unerwähnt bleiben, bei der wir schon sehr viel über die Auswirkungen auf das Gehirn wissen: COVID-19. Zu den Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten gibt es bereits Tonnen an Studien. Einen kleinen Überblick gibt es hier:

COVID-19 und was es mit dem Gedächtnis macht
COVID-19 kann durch Veränderungen der neuronalen Vernetzung des Gehirns zum Verlust von kognitiven Fähigkeiten führen.

Quelle https://allcoronavirusesarebastards.digitalpress.blog/covid-19-und-was-es-mit-dem-gedachtnis-macht/

Studien, die direkt den Einfluss der COVID-Impfung auf das Risiko einer Demenzerkrankung untersuchen, gibt es meines Wissens noch nicht. Aber die Impfungen reduzieren - zumindest für eine gewisse Zeit nach der Gabe - die Wahrscheinlichkeit einer Infektion und vor allem reduzieren sie das Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs, der mit besonders starken Folgen für Hirnfunktionen inklusive der Gedächtnisleistung verbunden ist.