Die neue Normalität: eine andauernde Abfolge von COVID-19-Wellen statt einer saisonalen Infektionskrankheit

Die neue Normalität: eine andauernde Abfolge von COVID-19-Wellen statt einer saisonalen Infektionskrankheit

Substack-Artikel vom 03.05.2023:

Ich gebe es zu: Dieser Artikel im Nature hat bei mir ziemlich eingeschlagen. Ich brauchte jetzt einige Zeit, um zu erfassen, was ich da gelesen habe.

Praktisch seit Beginn der COVID-Pandemie hielt sich als wahrscheinlichstes Zukunftsszenario, dass sich irgendwann ein saisonales Muster ergeben würde, ähnlich wie bei der Influenza oder auch bei den alten Coronaviren, die für einen Teil der herbstlichen Verkühlungen verantwortlich sind. Das würde - wie bei der Influenza - bedeuten, dass man doch recht gut geschützt ist, wenn man sich einmal jährlich im Oktober die saisonale Impfung holt und idealerweise im Winter ein paar weitere Schutzmaßnahmen ergreift. (Hinweis: Ja, Masken schützen!)

Leider kristallisiert sich heraus, dass diese Annahme von COVID-19 als eine saisonale Erkrankung nicht der Realität entsprechen dürfte. Die neue Normalität dürfte eine dauerhafte Abfolge kleinerer COVID-Wellen sein (“Wavelets”). Und das ist keine gute Aussicht.

“It will be a continually circulating respiratory disease. It may be less seasonal than things we’re used to.”

Eine Welle alle 3 Monate?

Die letzten Wellen, die von unterschiedlichen Omikron-Subvarianten angetrieben wurden, werden im allgemeinen Bewusstsein nicht mehr als besonders groß und gefährlich empfunden. Das ist auch in einer gewissen Weise nachvollziehbar. Abgesehen davon, dass sie in den Medien kein großes Thema mehr waren und dass das weltweite Zurückfahren der COVID-Maßnahmen das Gefühl vermittelt, dass es vorbei sei, ist es ja tatsächlich so, dass die Zahl der schweren Verläufe und der Todesfälle deutlich zurückgegangen ist.

In obiger Grafik sieht man die offizielle Zahl neuer Neuinfektionen, Spitalsaufnahmen, Personen in Intensivstationen und Todesfälle. Vor allem die letzten beiden Parameter bieten recht verlässliche Zahlen, weil zumindest in Deutschland und Österreich in den Spitälern noch gescreent wurde. Man hat den Eindruck, dass die letzten vier Wellen vergleichsweise harmloser waren (wirklich kleiner wurden sie aber nicht mehr).

Die Zahl der Neuinfektionen ist allerdings aufgrund des weitgehenden Zurückfahrens der Teststrategien (inzwischen sogar in Wien, der Welthauptstadt der SARSCoV2-PCR) nicht mehr vertrauenswürdig zu bewerten. Schaut man sich beispielsweise die offiziellen Abwasserdaten Österreichs an, zeigt sich ein anderes Bild. In Wirklichkeit sind die einzelnen Wellen seit über einem Jahr unvermindert hoch. Erstaunlicherweise ist die Welle Ende 2021, als der wilde Kerl Delta unsere Intensivstationen ein letztes Mal in den Zusammenbruch führte, kleiner als die folgenden Omikron-Wellen.

Ja, von einer Saisonalität ist in dieser Grafik nichts zu sehen. Es scheint tatsächlich so, dass SarsCov2 mit seiner unglaublichen Fähigkeit zur Mutation und zur Immunflucht uns ein weiteres Mal ausgetrickst hat. Und aktuell übernimmt XBB.1.16, das die WHO veranlasste, erstmals seit der ersten Omikron Variante eine Variant of Interest auszurufen (hier das offizielle PDF-File der WHO), die Vorherrschaft und dürfte zu einer neuerlichen Welle führen. In Indien tat sie das schon.

Welcome to the new normal: the ‘wavelet’ era. Scientists say that explosive, hospital-filling COVID-19 waves are unlikely to return. Instead, countries are starting to see frequent, less deadly waves, characterized by relatively high levels of mostly mild infections and sparked by the relentless churn of new variants.

Und was bedeutet das für uns?

Dank Impfungen und Medikamenten wie Paxlovid® sind die meisten von uns doch einigermaßen gut vor einem schweren Verlauf geschützt. Darüber hinaus scheinen die Omikron-Varianten auch per se harmloser zu sein als die heftige Delta-Variente. Aber auch bei relativ gesehen weniger schweren Fällen können das in absoluten Zahlen immer noch sehr viele Betroffene sein. In den USA ist COVID-19 derzeit nur mehr die neunthäufigste Todesursache. Wie super das ist, soll jeder für sich selbst bewerten.

Viel wichtiger ist meiner Meinung nach aber das, was COVID-19 länger- bis langfristig mit unserem Körper machen kann. Über Long Covid und die anderen Folgen von Reinfektionen habe ich erst letzte Woche in diesem Blogartikel geschrieben.

Laut dem Nature Artikel werden sich bei mehreren kleineren Wellen rund 50% der Menschen jährlich anstecken im Vergleich zu rund 20% bei der saisonalen Influenza. Wie viele werden an Long Covid erkranken oder eine Verschlechterung ihres bereits bestehenden Long Covid erleiden? Wie sehr wird sich das die Diabetes-Welle antreiben, über die Eric Topol erst vor zwei Wochen in seinem Blog Ground Truths geschrieben hat? Wie auf die Zahl an Autoimmunerkrankungen, über die er vor einer Woche geschrieben hat? Wie auf die Zahl an anderen Erkrankungen des Nervensystems inklusive Demenz, der Herz-Kreislauforgane?

Noch wissen wir es nicht. Aber es ist kein Wunder, dass zahlreiche Experten etwas beunruhigt sind.