Die Überlastung der Intensivstationen in der Hochphase der Pandemie
Warum Streecks Behauptung, die Intensivstationen wären in der Pandemie nie unter Druck gestanden, falsch ist.
- Hendrik Streeck hat ein Buch geschrieben.
- Er wärmt darin unter anderem die Behauptung auf, die Intensivstationen wären auch in der Hochphase der Pandemie nie wirklich unter Druck gewesen.
- Dasselbe hören wir auch von Querdenkern und manchen (großteils rechtsextremen) Politikern.
- Eine Blogartikel darüber, warum Intensivstationen nicht erst "unter Druck" sind, wenn das letzte Bett belegt ist.
Hendrik Streeck hat ein Buch geschrieben
Er mag als Virologe - Spezialgebiet HIV - vielleicht einiges geleistet haben. In der Pandemie meldete sich mein Bauchgefühl aber bereits, als er im April 2020 mit der egomanischen Aussage "Ich habe mehr an COVID-19 Erkrankte gesehen als jeder andere Virologe Deutschlands" an die Öffentlichkeit ging. Das klang mehr nach Geltungsbedürftigkeit als nach Wissenschaft. Christian Drosten, auf den der Satz wohl abzielte, ließ sich nicht herab, darauf einzugehen.
Hier geht es aber nicht um Streecks zahlreichen groben Fehleinschätzungen wie im Jänner 2020, dass COVID-19 harmloser als die Influenza wäre, als die WHO bereits eine internationale Gesundheitskrise ausrief. Auch nicht um seine Propagierung der Herdenimmunität. Wenn sich möglichst viele anstecken, steckt sich niemand mehr an, war die nicht nur ethisch problematische, sondern - wie wir inzwischen wissen - auch infektepidemiologisch falsche Überlegung. Später prognostizierte Streeck, es würde keine zweite COVID-Welle geben; er behauptete, Lockdowns brächten nichts, forderte sie später und kritisierte sie im Nachhinein, etc etc. Eine Übersicht über seine Prognosen und wie es dann wirklich gekommen ist, gibt es zum Beispiel in diesem Artikel bei Übermedien.
Jetzt hat Hendrik Streeck also ein Buch geschrieben. Es wurde zwei Wochen nach seiner Nominierung für ein Bundestagsmandat der CDU veröffentlicht.
Ich habe das Buch nicht gelesen. Christian Schwägerl schon. In seiner Rezension für die FAZ fasst er zusammen:
"Streeck geht über das Leid der Menschen hinweg, die von Covid betroffen waren oder sind. Die trotz aller Maßnahmen immense Zahl der Toten blendet er weitgehend aus, sie ist ihm eigentlich nur eine statistische Nebenbetrachtung wert."
Die Intensivbetten in der Hochphase der Pandemie
Ich werde Streecks Buch nicht lesen. Aber eine kolportierte Aussage hat mich halt doch getriggert. Und zwar jene, dass die Intensivstationen durch die Pandemie nie wirklich unter Druck geraten wären. In einem bei den Riffreportern erschienenen Interview berichten die Intensivmediziner Christian Karagiannidis und Steffen Weber-Carstens dagegen:
"Während der Pandemie hatten die Intensivstationen eine nie dagewesene Belastung."
Sie beschreiben, wie in Deutschland der Kollaps durch die Maßnahmen gerade noch verhindert werden konnte. Das ganze Interview gibt es hinter einer Bezahlschranke zu lesen. Mehr über die Riffreporter und ein besonderes Aboangebot gibt es am Ende dieses Blogartikels.
Streeck ist offenbar ein besonders prominentes Opfer des Präventionsparadox. Wenn durch Maßnahmen eine Katastrophe verhindert wird, ziehen manche den logisch falschen Schluss, die Maßnahmen wären gar nicht notwendig gewesen, weil sie ja nicht eingetreten sind.
In England kollabierte das System tatsächlich. Schaut euch an, wie Prof. Kevin Fong, der als erfahrener Intensivmediziner wohl schon einiges erlebt hat, vor dem COVID-Untersuchungsausschuss des britischen Unterhauses darüber berichtet, was er als Supervisor von Intensivstationen für das National Health System erlebt hat, und wischt euch danach die Tränen weg:
Wie war es bei uns in Wien
Was die beiden deutschen Kollegen andeuten, erlebten wir sehr ähnlich in Wien: Die schwierige Versorgung der vielen schwerstkranken Patient:innen. Ein Gesundheitssystem am Rande des Kollaps, welcher dank einer Stadt, die unfassbare materielle und personelle Mittel in die Schlacht warf, und der Mitarbeit aller Berufsgruppen bei Aufhebung des Arbeitszeitgesetzes gerade noch verhindert werden konnte. Von den Teststraßen über die mobilen Einsatzteams und die Rettungskräfte bis zu den Spitälern samt Intensivstationen.
Währenddessen wurden in den Spitälern nicht lebenswichtige Operationen nach hinten verschoben, damit an sich dafür vorgesehene Intensivbetten an COVID-Kranke vergeben werden konnten. Zu den Höhepunkten der ersten Wellen wurden sogar Aufwachräume, die an sich für frisch operierte Personen vorgesehen sind, bis sie aus der Narkose aufgewacht sind, zu behelfsmäßigen COVID-Intensivstationen umfunktioniert. Die pflegerische Betreuung musste von Personal übernommen werden, das dafür eigentlich gar nicht ausgebildet ist. Pflegepersonal von Überwachungsabteilungen, Anästhesiepflege, OP-Pflege.
Auf der Intensivstation meiner Abteilung wurden monatelang durchgehend ausschließlich COVID-Kranke betreut. Vor allem das Pflegepersonal war enormer körperlicher und emotionaler Belastung ausgesetzt. Körperlich wegen der schweißfördernden Arbeit in voller "Astronautenmontur", emotional weil die hohe Todesrate selbst für die oft hartgesottene Intensivbelegschaft zu viel war.
Wie knapp es mit der Versorgung zu den Spitzenzeiten wurde, habe ich schon einmal in diesem Artikel angedeutet:
Während wir im Spital all das erlebten, rechneten uns manche Journalisten und auf Twitter noch viel mehr Querdenker vor, dass die Intensivstationen nicht einmal halbvoll wären - bestärkt durch verpfuschte Kommunikation von Gesundheitsbehörden und Politikern sowie von manchen Journalisten, die die schlechte Kommunikation unwissentlich und vielleicht manchmal auch wissentlich missinterpretierten.
Manchmal waren es auch Journalisten und Querdenker in Personalunion:
Die Argumente und die kolportierten Zahlen ähneln denen aus Deutschland.
Aber wieso sprachen wir vom nahen Kollaps, wenn doch eh alles locker war?
Intensivbetten in Wien bzw. in Österreich 2020 und 2021
Lassen wir mal Lügen und eine absichtliche Missinterpretation der Zahlen beiseite und schauen auf die Zahlen selbst.
Zunächst das einfachste: "Nur 34,71% Coronapatienten", das klingt so, als ob die restlichen 65,29% der Intensivbetten unbelegt wären. Auf Twitter wurde tatsächlich gefragt, warum wir anstatt Panik zu machen, nicht einfach die restlichen Betten belegen würden. Tatsächlich war ein großer Teil der Betten aber natürlich nicht unbelegt, sondern für Nicht-Covid-Kranke vorgesehen. Denn die gab es ja auch in der Pandemie. Jene mit einer bakteriellen Sepsis, mit einem akuten Nierenversagen, mit akuten Herzinfarkten, die Unfallopfer etc. Und nicht zuletzt die frisch operierten, die nach großen Operationen wie z.B. einem Bypass oder einer Transplantation für einige Tage - manchmal auch länger - intensivpflichtig bleiben.
Aber es gab auch tatsächlich freie Betten. Der Grund mag manche überraschen: Intensivstationen sollten nie komplett voll sein. Denn dann könnten akute Notfälle nicht mehr versorgt werden. Und OPs müssten verschoben werden. Pech gehabt, länger warten auf den Bypass und halt hoffen, dass bis dahin alles gut geht. Manches konnte durch die Umwidmung von Aufwachräumen und Überwachungsstationen abgefedert werden, aber nicht alles.
Die Intensivstation meiner Abteilung war in der Hochphase der Pandemie monatelang ausschließlich für COVID-Kranke zuständig. Die sonst bei uns behandelten Patienten wurden auf einer der Intensivstationen der Anästhesie betreut, die dafür wiederum weniger Kapazitäten für OPs hatten. Auf unserer Intensiv waren meist 6 bis 7 der 8 Betten belegt, also 75 bis 87,5%. Mathematisch waren also manchmal 25% der Betten frei. Weil wir keine Lust auf mehr Patienten hatten? Weil es eh nicht so viele Schwerkranke gab, wie der Wiener FPÖ-Chef, willfährige Journalisten und möglicherweise auch Hendrik Streeck sagen würden?
Oder lag es vielleicht eher daran, dass eine Intensivstation, in der kein einziges Bett mehr frei ist, eben keine Möglichkeit hat, einen gerade mit der Rettung herangekarrten, erstickenden Mann mit COVID-19 zu versorgen? Es war über Monate ein ständiges Jonglieren der freien Kapazitäten zwischen den Wiener Intensivstationen. Man war voll, verlegte die Kranken auf eine Überwachung, sobald sie nicht mehr intubiert sein mussten, verlegte sie beim absoluten Lungenversagen an die Uniklinik zur ECMO. Und vor allem wurden so viele Betten wie nie vorher und nachher durch die vielen Todesfälle frei. Ob wir an einem bestimmten Tag 0, 1 oder 2 neue Patient:innen bekommen würden, ließ sich nicht planen. Es handelt sich schließlich um Notfälle, die nicht genau dann auftreten, wenn gerade ein Bett frei geworden ist.
Hätte die Stadt Wien so wie von der FPÖ und anderen gefordert auf die Vorhalteleistung verzichtet, hätte man an manchen Tagen nicht alle Notfälle versorgen können. Was die Krawalljournalisten darüber wohl geschrieben hätten? Im Rest Österreichs und wohl auch im Land von Hendrik Streeck sah es ähnlich aus.
Aus dem Interview mit den beiden deutschen Intensivmedizinern bei den Riffreportern:
Weber-Carstens: "Bei sehr hoher Auslastung wie in der Pandemie war es ständig nötig, Patienten zu verschieben und planbare Operationen abzusagen, damit alle Notfälle ausreichend versorgt werden konnten. Die Empfehlung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin lautet deshalb, 20 Prozent der Intensivbetten für Notfälle freizuhalten."
In einer Information des österreichischen Gesundheitsministeriums (pdf) werden ein paar Grundpfeiler der Bettenauslastung auf Intensivstationen in der Pandemie zusammengefasst (Hervorhebungen durch mich):
Je größer die Auslastung auf den Intensivstationen aufgrund der Zunahme intensivpflichtiger COVID-19-PatientInnen ist, desto schwieriger ist die Aufrechterhaltung der intensivmedizinischen Versorgung von Nicht-COVID-19-PatientInnen – nicht nur im Hinblick auf vorhandene Betten, sondern vor allem auch bezogen auf die Ressourcen des intensivmedizinischen Personals.
Bereits bei einer Auslastung der Intensivbetten von >10 % mit COVID-19-PatientInnen ist es notwendig, elektive Eingriffe an Nicht-COVID-19 PatientInnen vereinzelt zu verschieben. Bei Auslastung zwischen 10 % und 30 % müssen zunehmend Nicht-COVID-19- PatientInnen auch in Aufwachräumen, Überwachungsbetten (z. B. IMCU) intensivmedizinisch behandelt werden. Die pflegerische Betreuung dieser kann teilweise von Pflegepersonen z.B. aus dem Anästhesiebereich durchgeführt werden.
Bei einer Überschreitung des Schwellenwertes von 33 % ICU-Auslastung wird jedenfalls davon ausgegangen, dass die COVID-19-PatientInnen bereits in deutliche Konkurrenz mit anderen intensivpflichtigen PatientInnen treten. Um eine solche, die Versorgung aller behandlungspflichtigen PatientInnen gefährdende, Konkurrenzsituation zu verhindern, werden zunächst bei noch mittlerer Auslastung (zwischen 10 % und 30 %) kontinuierlich elektive Eingriffe, die eine anschließende intensivmedizinische Betreuung erfordern könnten, verschoben.
Mit steigendem COVID-19-Belag wird zunehmend pflegerisches und ärztliches Personal aus anderen qualifizierten Bereichen (OP-Personal, Anästhesie, Interne, notärztlicher Bereich) auf den Intensivstationen eingesetzt. Bei noch höherer ICU-Auslastung mit COVID-19-PatientInnen können Situationen eintreten, bei denen eine routinemäßige Versorgung von Notfällen nicht mehr flächendeckend gewährleistet wird.
Neben den verfügbaren Betten ist vor allem die Verfügbarkeit des spezialisierten Personals, welches die Versorgung intensivpflichtiger PatientInnen gewährleistet, ausschlaggebend. Dies ist auch deshalb von Bedeutung, da COVID-19-PatientInnen mit schweren Verläufen – aufgrund des Erkrankungsbildes an sich und der damit verbundenen besonderen Hygienemaßnahmen – einen wesentlich personalintensiveren Betreuungsaufwand erfordern.
Es ist nicht immer so, dass die Angaben des Ministerium sich mit den Erfahrungen an der Front decken, in diesem Fall passt es haargenau. Wie hoch die Auslastung über das eigene Spital hinaus war, wussten wir allerdings selbst oft nicht.
Eine Schwierigkeit - zumindest in Österreich - war die oft intransparente Informationspolitik. Eine übersichtliche Darstellung der Intensivbetten der einzelnen Bundesländer gab und gibt es nicht. Alex Brosch versuchte im Herbst 2021 auf Twitter, anhand der Daten verschiedener Quellen einen Überblick zu schaffen, der nicht vollständig ist und nicht alle Fragen beantwortet, aber doch einen Eindruck der Situation liefert.
Zur Erinnerung: Ab 10% COVID-Patienten (gelbe Linie in der folgenden Grafik) beginnen die ersten Einschränkungen des Routinebetriebes. Ab 33% (rote Linie) steuert das System auf einen Kollaps zu. Alex Brosch stellte für die neun Bundesländer folgende Grafiken zusammen:
Dunkelblau sind die Intensivpatient:innen mit COVID-19, hellblau (ab 2021) jene ohne COVID. Der weiße Bereich dazwischen entspricht somit den gerade freien Betten. Dieser Bereich ist immer ungefähr gleich breit, aus den oben genannten Gründen. Wenn es mehr COVID-Kranke gibt, werden eben nicht die freien Betten weniger sondern die Betten für die Nicht-COVID-Kranken. Die 10%, ab denen erste Operationen verschoben werden müssen, wurde monatelang überschritten, vereinzelt auch die 33% ab denen es statistisch gehäuft zu Versorgungsengpässen bei den Notfällen kommt. Im November 2020, als Österreich kurzzeitig weltweit die meisten registrierten Todesfälle relativ zur Bevölkerung hatte, stand das System in mehreren Bundesländern knapp vor dem Kollaps (Vorarlberg!), im März 2021 in den drei östlichen Bundesländern Wien, Niederösterreich und Burgenland. Und mancherorts stand die Versorgung nicht nur knapp vor dem Kollaps, sondern war schon einen Schritt weiter. Zahlen und Daten habe ich dazu nicht, nur die glaubhaften Berichte von Kolleginnen und Kollegen.
Das war das, womit wir uns herumschlagen mussten und nicht das Anstarren von leeren Intensivbetten.
Soli-Abo der Riffreporter für Betroffene von Long Covid und ME/CFS
Ich habe euch versprochen, euch nicht mit Werbung zu belästigen. Eine kleines Bisschen weiche ich von diesem Versprechen ab. Allerdings nicht mit einer Werbung, die mir Geld einbringt, sondern mit der Info für eine Aktion, die ich gut finde.
Die Riffreporter sind eine Genossenschaft freiberuflicher Journalist:innen, die dort ihre Artikel veröffentlichen. Gegen einen geringen monatlichen Betrag erhält man Zugang zu allen neu erscheinenden Artikel und zum inzwischen recht großen Archiv. Im Rahmen des Recherche-Kollektivs „Postviral“ berichten die Autor:innen regelmäßig und umfassend über Entwicklungen rund um Long Covid, ME/CFS und andere postinfektiöse Erkrankungen, sowie über die Versorgungslage der Betroffenen.
Weil viele Betroffene nicht nur mit gesundheitlichen Herausforderungen kämpfen, sondern auch mit finanziellen Belastungen gibt es derzeit ein besonders günstiges Angebot für Betroffene. Das so schon preisreduzierte Soli-Abo wird ab dem 1. Oktober für drei Wochen noch einmal um 50 Prozent reduziert, auf 5 Euro im Monat oder 59 Euro im Jahr.
„Die Pandemie ist noch nicht für jeden vorbei: Deshalb bleiben wir RiffReporter dran und bieten mit 50 Prozent Rabatt auf unser Soli-Abo ein faires Angebot. Weil Wissen für alle zugänglich sein sollte.“
Alle weiteren Infos gibt es hier: https://www.riffreporter.de/de/riffreporter-soli-abo-fuer-betroffene