Die verlorenen Lebensjahre durch die COVID-19-Pandemie in Europa
Eine neue Studie berechnete die durch die Pandemie verlorenen Lebensjahre, wie viele davon gesund genug für ein selbstbestimmtes Leben gewesen wären und was für einen Einfluss der Wohlstand und die Durchimpfungsrate eines Landes hatte.
- In 18 europäischen Ländern inkl. Deutschland, Schweiz und Österreich gingen durch die Pandemie von 2020 bis 2022 insgesamt 16,8 Millionen erwartete Lebensjahre verloren, 13,2 Millionen direkt durch COVID-19-Infektionen.
- Fast 60% dieser verlorenen Lebensjahre wären frei von Invalidität gewesen. Es starben eben bei weitem nicht nur "die Alten und Schwachen".
- Länder mit einem hohen Bruttoinlandsprodukt sowie Länder mit einer hohen Durchimpfungsrate schnitten relativ besser ab.
Die durch die Pandemie verlorenen Lebensjahre
Laut WHO gab es bis 2023 weltweit 7 Millionen bestätigte COVID-19-Todesfälle (höher wird die Zahl nicht mehr werden, weil die Zahl der COVID-19-Toten nicht mehr gemeldet werden muss). Noch viel höher ist aber die Dunkelziffer, also die tatsächliche Zahl der Toten. Alleine für 2020 und 2021 schätzte die WHO eine Zahl von 15 Millionen Todesopfern. Eine aktuellere Schätzung anhand der Übersterblichkeit präsentiert die Zeitschrift The Economist. Sie errechnen eine Zahl von 27 Millionen tatsächlichen Toten (statistische Spanne 19 - 36 Millionen) bis Sommer 2024, also fast das Vierfache der offiziellen Zahl (Link zum Artikel, nicht frei verfügbar).

Aufgeschlüsselt auf die verschiedenen Weltregionen zeigt sich, dass vor allem für Afrika die Opferzahl bei weitem unterschätzt wird. Die vom Economist errechnete Zahl ist 15x größer als die offiziellen Angaben.

Dazu, wie sehr die COVID-19-Pandemie weltweit die Lebenserwartung verschlechtert hat, gibt es ebenfalls bereits eine Reihe großer Studien. Auf ein paar dieser Studien bin ich im Blog vor knapp einem Jahr eingegangen. Zusammengefasst beschrieben diese Studien den global gesehen größten Einbruch der Lebenserwartung seit dem 2. Weltkrieg und dass dieser Einbruch in den ärmeren Ländern in Afrika, Lateinamerika und Asien besonders ausgeprägt war - mit Ausnahme jener südostasiatischen Länder wie z.B. Vietnam, die früh konsequente Maßnahmen ergriffen und dann eine umfassende Impfkampagne starteten:

Wie viele Todesopfer die Impfungen verhinderten, wurde ebenfalls in mehreren Studien berechnet. Alleine in 34 untersuchten Ländern der WHO Europaregion waren es vom Beginn der Impfungen bis zum Frühling 2023 1,6 Millionen gerettete Leben ("Estimated number of lives directly saved by COVID-19 vaccination programmes in the WHO European Region from December, 2020, to March, 2023: a retrospective surveillance study").
Die neuen Studienergebnisse
In der nun publizierten Studie des Imperial College in London wählten die Wissenschaftler*innen einen etwas anderen Ansatz. Sie versuchten zu berechnen, wie viele Lebensjahre verloren gingen, und zwar nicht nur die Lebensjahre insgesamt, sondern auch wie viele dieser Lebensjahre in einem guten Gesundheitszustand verbracht worden wären. Hier wurde also nicht nur die Zahl der Todesopfer an sich erhoben, sondern auch, wie lange die Personen noch gelebt hätten, wenn keine Pandemie gekommen wäre.
Sie erhoben weiter, wie viele dieser verlorenen Lebensjahre auf offiziell nachgewiesene COVID-Todesfälle zurückzuführen sind und wie der sozioökonomischen Status der einzelnen Staaten sowie die Durchimpfungsrate die Zahl der verlorenen Lebensjahre beeinflusste. Dazu verwendeten sie Modellierungen und verschiedenen Datenquellen aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Italien, den Niederlanden, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, der Schweiz, Slowenien, Spanien, der Tschechischen Republik, Ungarn und dem Vereinigten Königreich.
Insgesamt errechneten die Autorinnen und Autoren ein Verlust von 16,8 Millionen Lebensjahren in den 18 europäischen Ländern von 2020 bis 2022 (2020: 4,7 Millionen, 2021: 7,1 Millionen, 2022: 5,0 Millionen). 13,2 Millionen dieser verlorenen Lebensjahre, also mehr als 3/4, ließen sich direkt auf COVID-19-Erkrankungen zurückführen. Aufgeschlüsselt auf die einzelnen Staaten waren es 350.000 Lebensjahre in Österreich, 2,35 Millionen für Deutschland und 140.000 für die Schweiz. Nicht ganz überraschend schnitt Österreich bezogen auf die Bevölkerung im Vergleich zu den anderen (mehrheitlich) deutschsprachigen Ländern also besonders schlecht ab. Am schlimmsten von der Pandemie betroffen, was die Zahl der Todesopfer betrifft, waren Spanien sowie die osteuropäischen Länder.

Aus den präsentierten Daten schwer erklären lässt sich, warum in manchen Ländern wie z.B. auch Österreich und Deutschland 2022 besonders viele Todesfälle auftraten, die nicht durch die offiziell an COVID-19 Verstorbenen zu erklären waren, während diese in Schweden oder auch in Frankreich sogar niedriger als zu erwarten waren, weshalb die gesamte Übersterblichkeit dort niedriger war als die Zahl der COVID-Toten. Die Autor*innen begnügen sich hier mit vagen Spekulationen. Weiters gehören Deutschland und Österreich zur Minderheit der Länder, die 2022 eine größere Zahl an verlorenen Lebensjahre aufwiesen als 2020 und 2021. Letzteres war in den meisten Ländern das schlimmste Land der Pandemie.
Hier diese Daten im Detail:
In einem nächsten Schritt versuchte die Forschungsgruppe durch eine recht komplexe statistische Analyse, wie viele der verlorenen Lebensjahre "ohne Invalidität" gewesen wären, wobei dies als die Fähigkeit, alltägliche Erledigungen selbstständig durchzuführen, definiert wurde. Dabei errechneten sie, dass der Anteil der verlorenen Lebensjahre ohne Invalidität an der Gesamtzahl der verlorenen Jahre bei 58% lag. Die Spanne ging von 51% (Frankreich und Belgien) bis 76% (Griechenland).
Das widerspricht natürlich ganz klar dem so oft gehörten Framing, dass die meisten Opfer der Pandemie pflegebedürftige Menschen mit schweren Grunderkrankungen gewesen wären. Unterstrichen wird das durch die Analyse der Altersgruppen. Selbst bei den über 80-Jährigen wären 47% der verlorenen Jahre welche mit selbstständigem Leben gewesen. Das entspricht dem Eindruck, den wir in den ersten Jahren der Pandemie im Spital hatten: Ein beträchtlicher Teil der Toten waren rüstige Senioren.
Abschließend wurde der Einfluss des Wohlstands (bestimmt anhand des Bruttoinlandsproduktes, GDP) und der Impfrate bestimmt. In der folgenden Grafik sieht man in der unteren Kurve den Einfluss des Bruttoinlandsproduktes auf die verlorenen Lebensjahre. In den reicheren Ländern starben tendenziell weniger Menschen als in den ärmeren. Ausreißer ließen sich zu einem großen Teil durch die Impfungen erklären (in der oberen der beiden Kurven dargestellt). Das relativ ärmere Portugal legte beispielsweise eine ausgezeichnete Impfkampagne hin und hatte auf die Bevölkerung bezogen nur unwesentlich mehr Todesopfer als Deutschland.
Noch größer war der Einfluss der Durchimpfungsrate. Wo mehr geimpft wurde, gab es weniger Tote. Ein Ausreißer ist hier die reiche Schweiz, die trotz ziemlich miserabler Durchimpfung relativ gut abschnitt.
Zusammengefasst zeigt die Studie also die enorme Zahl der verlorenen Lebensjahre durch die Pandemie in Europa und dass mehr als die Hälfte davon Jahre eines selbstbestimmten Lebens gewesen wären. Das Märchen, dass "nur die schwer vorerkrankten gestorben" wären, war von Anfang an ein Märchen. Wo mehr geimpft wurde und wo es mehr Wohlstand und somit mehr Ressourcen im Gesundheitssystem gibt, gab es ebenfalls weniger Tote.
Wohlgemerkt bezieht sich all das auf das im globalen Vergleich privilegierten Europa. Wie zu Beginn dieses Artikels bereits erwähnt, stellte die Übersterblichkeit in anderen Weltgegenden, v.a. in Afrika, jene bei uns bei weitem in den Schatten.
Dafür, warum gerade Österreich und Deutschland 2022 so viele nicht direkt durch COVID-19-Erkrankungen erklärbare Todesfälle hatte, habe ich keine gute Erklärung. Das Gesundheitssystem war in beiden Ländern wie auch sonst fast überall sehr angespannt, kollabierte aber nicht. Und dass viele der Toten einfach nicht diagnostizierte COVID-19-Fälle gewesen wären, ist auch schwer vorstellbar. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern wurde hier besonders viel getestet - insbesondere im "PCR-Paradies" Österreich. (Und nein, liebe Twitter-User, Impfopfer waren es nicht. Andere Länder mit mehr Impfungen verzeichneten weniger Nicht-COVID-Todesopfer.)
Ganz zum Schluss noch eine Anmerkung zu Schweden, das in dieser Studie gut abschnitt, was sicher wieder einige zur vorschnellen Behauptung verleiten wird, der schwedische Weg wäre der richtige gewesen. Auf die vielen Eigenheiten des schwedischen Weges einzugehen, der eigentlich nur in der ersten, in Schweden sehr großen Welle ein Sonderweg war, würde den Rahmen dieses Artikels bei Weitem sprengen. Ein bisschen was dazu hat Markus Pössel in einem Blog im Spektrum der Wissenschaft geschrieben:
