Flashback: Das Trauma der ersten beiden COVID-Wellen

Flashback: Das Trauma der ersten beiden COVID-Wellen

Substack-Artikel vom 13.11.2023:

:: Ein britischer Untersuchungsausschuss deckt das menschliche Versagen der Regierung Johnson auf :: Das anhaltende Trauma des Gesundheitspersonals :: Persönliche Betrachtungen zu Wien 2020 ::


In UK läuft derzeit ein Untersuchungsausschuss, in dem die Reaktion der Regierung Boris Johnson auf die ersten beiden, auf der Insel besonders katastrophal verlaufenen COVID-19-Wellen untersucht wird. Er bringt noch viel Schlimmeres zu Tage als eh schon geahnt. In einem Editorial in The Lancet, einer der ältesten und renommiertesten medizinischen Fachzeitschriften der Welt, könnte Chefredakteur Richard Horton nicht expliziter sein. Seine Worte zieren das Titelblatt der aktuellen Ausgabe - ein ungewöhnlicher Schritt.

Titelseite der aktuellen Ausgabe von The Lancet: “Das Ausmaß an krimineller Inkompetenz, das von den jüngsten Zeugen der britischen COVID-19-Untersuchung … aufgedeckt wurde, hat bewiesen, dass viele, wenn nicht die meisten der über 230 000 Todesfälle vermeidbar gewesen wären.”

Es wird aufgedeckt, wie im Kabinett von Boris Johnson Witze über "the italians", die nichts zusammenbrächten, gemacht wurden, als in der Lombardei die Gesundheitsversorgung zusammenbrach, in Bergamo COVID-19-Kranke in improvisierten Zelten auf den Parkplätzen vor den Spitälern erstickten und das italienische Militär die Leichen abtransportierte. Stattdessen vertraute man weiterhin auf dem Konzept der Herdenimmunität und auf eine sich selbst zugeschriebene Überlegenheit gegenüber den Ländern im südlichen Europa. Als Experten aus Medizin und Wissenschaft mit wachsender Verzweiflung einen Lockdown forderten, meinte Boris Johnson zum damaligen Finanzminister und jetzigen Premierminister Rishi Sunak: “Warum zerstören wir die Wirtschaft für Leute, die sowieso bald sterben werden?”

Besonders tragisch dabei: Während man in Italien und Spanien aus den traumatischen Erfahrungen der ersten Welle lernte, stolperte UK in die ähnlich unvorbereitet in die zweite Welle. In Madrid, das ich gut kenne, weil meine Frau von dort ist, wurde im März 2020 der Palacio de hielo, die etwas großspurig “Palast” genannte Eislaufhalle, zur Leichenhalle umfunktioniert. Wegen der Kühlung. Die Guardia Civil, die spanische Militärpolizei, wurde in Pflegeheime geschickt, um dort die Toten zu bergen. Gestorben an COVID-19, teilweise aber auch einfach verdurstet, als die völlig unterbezahlte und überlastete Belegschaft in Ermangelung an Schutzausrüstung in Panik geflüchtet war. Die Leichen wurden dann in bis zu 150km weit entfernte Krematorien transportiert, weil die Einrichtungen in Madrid mit dem Verbrennen nicht mehr nachkamen. Dieses Trauma sorgte dafür, dass man mit der zweiten und den folgenden Wellen einigermaßen zurecht kam. Auch dank drastischer Maßnahmen.

In UK vertraute die Regierung weiterhin auf die Herdenimmunität und die Great Barrington-Deklaration, worauf das schon durch die erste Welle traumatisierte Gesundheitspersonal noch einmal überrollt wurde.

Christina Pagel, Mitglied der britischen Scientific Advisory Group for Emergencies (SAGE), die bereits einen sehr lesenswerten Kommentar im New Statesman zu den Erkenntnissen des U-Ausschusses geschrieben hatte, veröffentlichte gestern (12.11.) einen Artikel dazu in ihrem Blog. Dabei lässt sie nach einführenden statistischen Betrachtungen zu den ersten beiden COVID-Wellen Mitarbeitende aus dem Gesundheitsbereich zu Wort kommen. Deren knappe Kommentare lässt sie unkommentiert, weil sie keines weiteren Kommentars bedürfen.

“I will never get over seeing whole families and healthcare workers die”: Bearing witness to the experiences of NHS staff during the first pandemic year
The reality of the first year and its aftermath: (anonymous) testimony from staff at the NHS front line

Und bei uns?

Die Berichte des britischen Gesundheitspersonals führte bei mir zu einem Flashback zum Beginn der Pandemie. Wie wir die Schreckensmeldungen aus Bergamo verfolgten und uns vorzustellen versuchten, was auf uns zukommen würde. Dann die ersten Patientinnen und Patienten mit einer Krankheit, die wir erst kennenlernen mussten und für die wir noch praktisch keine Therapie hatten. Die morgendlichen Fahrradfahrten in die Arbeit durch die menschenlosen Straßen. Die vielen 25-Stunden-Dienste, als das Krankenanstaltenarbeitszeitgesetz (KA-AZG) gezwungenermaßen außer Kraft gesetzt wurde. Und natürlich die Kranken, von denen es vor allem in der Anfangszeit viele nicht schafften. Siehe auch #YesWeCare:

#YesWeCare - Erinnerung an einige COVID-Patient:innen der letzten 3 Jahre
Substack-Artikel vom 13.03.2023: Ein emotionaler Rückblick Am 13.März 2020 wurde die erste Patientin mit COVID-19 auf meiner Station aufgenommen, als zweite Abteilung in Wien nach der Infektiologie der Klinik Favoriten. Ein paar Tage später war auch unsere Intensivstation mit im Spiel. Meine Station war über den Winter

Die deutschsprachigen Länder kamen dabei eigentlich recht gut durch die erste Welle. Wir hatten einen gewissen Startvorteil, weil die Welle bei uns später ankam und die ersten Maßnahmen frühzeitig gesetzt wurden (außer in Ischgl).

Ich, nach einem Dienst im Winter 20/21.

Dafür traf uns die zweite Welle umso härter. Die Coronaleugner hatten sich bereits formiert. In Wien gab es bald jeden Samstag Coronademos, die so nebenbei besonders gerne durch das jüdische Viertel im zweiten Wiener Gemeindebezirk zogen. In den Bundesländern zogen die Demonstranten dagegen vor Spitäler. Die FPÖ, deren Parteichef Kickl im März der Regierung noch Tatenlosigkeit vorgeworfen hatte, trommelte nun gegen die Maßnahmen und propagierte Ivermectin. Viele von denjenigen, die in der ersten Welle in Panik Klopapier gekauft hatten, während wir uns in den Spitäler dem neuen Virus aussetzten, warfen uns jetzt Panikmache vor. Währenddessen wurden OP-Aufwachräume zu improvisierten Intensivstationen umgewandelt, um die Versorgung der COVID-Kranken irgendwie zu gewährleisten. Mit großteils dafür kaum qualifiziertem Personal.

Die Zahlen stiegen nämlich in lichte Höhen, sowohl was die Zahl der Toten als auch was die Spitalsbelegung betrifft. Zwischenzeitlich war Österreich im November 2020 das Land mit den meisten Todesfällen relativ zur Bevölkerung. Weltweit.

Quelle: ourworldindata.org
Quelle: ourworldindata.org

Das, was das Gesundheitspersonal in UK mitmachte, war wohl noch ein Stück schlimmer als das, was wir erlebten. Wir hatten zumindest bei uns im Spital auf den COVID-Stationen immer genug Schutzkleidung. Aber wir sahen viele 60-, 70-Jährige ohne wesentliche Vorerkrankungen sterben. Es war vor allem das Pflegepersonal, das hautnah miterlebte, wie sich die Kranken via iPad vor der Intubation von ihren Familien verabschiedeten. Unsere Intensivpflege ist psychisch nicht mehr so wie vor der Pandemie. Aber zumindest brach bei uns die Versorgung nicht komplett zusammen. Weil das Gesundheitssystem vorbereitet wurde, so geht es ging. Und weil zwar spät, aber eben doch Maßnahmen ergriffen wurden.

Maßnahmen, die der jetzige Bundeskanzler Nehammer im Nachhinein offenbar bereut. Zumindest muss man so seine im Mantel der Versöhnung (mit den Maßnahmengegnern) daherkommende, kaum verhüllte Drohung gegenüber “den Experten” im Februar 2023 interpretieren, als er es schaffte in einem Satz mit Wissenschaftsfeindlichkeit und Abschieben der Verantwortung zu glänzen.

"Wir waren expertenhörig, nun sollen Experten erklären, warum sie zu dieser Entscheidung gekommen sind."
(Bundeskanzler Nehammer am 15.2.23)

Damit hoffte er wohl auf Applaus von denjenigen, die uns in der Deltawelle die vielleicht schwierigste Zeit bereiteten. Nun waren es vor allem ungeimpfte Personen, die unsere Spitäler füllten. Viele (aber lange nicht alle) waren deklarierte Coronaleugner oder zumindest Maßnahmengegner. Angehörige und, solange sie das körperlich schafften, oft auch Kranke beschimpften uns, warfen uns Ahnungslosigkeit oder gar absichtliche Fehlbehandlung vor. Weil wir glaubten, dass es das Virus 1. gibt und es 2. recht gefährlich sein kann.


Daran und noch viel mehr denke ich beim Lesen der Berichte aus UK. Und ich frage mich, wie wir wohl mit einer neuerlichen Pandemie umgehen würden. Und ich bin da nicht sehr optimistisch.