[Flashback] Ein Thread über eine Ungeimpfte
Ein Blick zurück auf einen Twitter-Thread vom September 2021 als Antwort auf die Forderung, Ungeimpfte nicht mehr zu behandeln.
Alle paar Monate schaue ich hier zurück auf meine Zeit bei Twitter (oder Xitter oder X), dem sozialen Medium, dem ich in der Hochphase der Pandemie sehr viel Zeit gewidmet habe, dem ich aber inzwischen längst den Rücken zugekehrt habe. Dieses Mal geht es um einen Thread zu einer wahren Geschichte, die sich bei mir im Spital abgespielt hat.
Ich schrieb den Thread genau vor 3 Jahren Ende September 2021. Es war zu Beginn der dritten großen COVID-Welle. So ziemlich alle, die es wollten, waren geimpft. Aber viel zu viele wollten das nicht. Weil sie die Impfung für gefährlicher als das Virus hielten; weil sie COVID-19 für harmlos hielten; weil sie von Gerüchten über Impfnebenwirkungen gehört hatten; weil sie den diffusen Verschwörungstheorien eher glaubten als Wissenschaft und Medizin; weil die wenigen impfskeptischen Wissenschaftler und Mediziner in den Medien völlig überrepräsentiert waren; weil sie Angst vor der Impfung hatten. Im Spital sahen wir gleichzeitig die nächste Welle auf uns zurollen.
Nach eineinhalb Jahren COVID-19 und all den notwendigen Maßnahmen, um Ausbrüche bei den Nicht-COVID-Patienten und bei uns selbst, dem Personal, zu minimieren, waren bereits deutliche Verschleißerscheinungen zu bemerken. Gleichzeitig wurde die Arbeit durch die wachsende Zahl an mehr oder weniger aggressiv auftretenden Impf- und Maßnahmengegnern in- und außerhalb des Spitals immer schwieriger.
Zuletzt tauchte ein neues Phänomen auf. Befürworter der Impfung, die forderten - von uns Ärzt:innen forderten, Ungeimpfte COVID-Kranke einfach nicht mehr zu behandeln. In der Twitter-Bubble der COVID-Ärzt:innen machte sich zunehmend Ernüchterung breit. Die Angriffe der radikalen Impfgegner ("Kindermörder!", "Impfnazi", "Dr.Mengele") waren wir inzwischen gewohnt. Zwangsläufig. Aber mit einem Angriff von der anderen Seite hatten wir nicht gerechnet.
Für mich wurde so richtig klar, wie tief der Bruch in der Gesellschaft inzwischen war. Auf der einen Seite die enorme Menge an Maßnahmengegnern und Coronaleugnern mit ihren wöchentlichen Demonstrationen, die häufig von Drohungen gegen uns begleitet waren. Auf der anderen Seite eine - viel kleinere und nicht gewalttätige! - Gruppe von Leuten, die Ungeimpfte verrecken lassen wollten. Wir im Spital hatten es dagegen mit Menschen zu tun.
Der Thread
In dieser Stimmung schrieb ich einen Twitter-Thread über eine Frau, eine Patientin, eine Ungeimpfte, die mich emotional sehr berührt hatte. Ich gebe ihn hier wieder. Manche Details hätte ich im Nachhinein etwas anders geschrieben, manches klingt außerhalb des Twitter-Formats etwas eigenartig. Aber ich gebe ihn hier genau so wider, wie ich ihn am 27.9.2021 geschrieben habe:
In den letzten paar Wochen treten hier vermehrt Impf*befürworter* auf, die fordern, dass Ungeimpfte mit #COVID19 kein ICU-Bett bekommen sollten. Sie agieren weniger brachial als die Antipoden von den Coronaleugnern. Aber die Forderung ist für mich inakzeptabel und inhuman.
Damit ihr wisst, was da gefordert wird, ist ein konkretes Bsp besser geeignet als theoretische Ethik. ♀️ 52J, wirkt jünger als 52, gesund bis auf etwas Übergewicht (gilt damit als "vorerkrankt"). Ungeimpft. Seit 1Wo Fieber, Husten. Jetzt mit etwas Atemnot ins Spital gekommen.
O2-Sättigung bereits <90%, PCR+, im Lungenröntgen beginnende Viruspneumonie. Mit etwas Sauerstoff geht es ihr recht gut, dazu Cortison. In ihrem Gesicht eine Mischung aus viel Hoffnung, etwas Selbstvorwürfen, noch gut verborgener Angst.
Sie ist ungeimpft, weil sie so viel Schlechtes über die Impfungen gehört hat, außerdem lebt sie ja gesund, was soll da schon passieren. "Meine Tochter ist als einzige der Familie geimpft. Kluges Mädchen. Ich war leider dumm." Sie ruft am Abend Verwandte an. "Geht impfen!"
In der Früh kriege ich die Info vom Turnusarzt, dass der O2-Bedarf über Nacht deutlich gestiegen ist, bei 10L/min liegt der pO2 bei nur mehr 52mmHg. Von der Hoffnung ist in ihrem Gesicht jetzt nicht mehr viel zu sehen, die Angst ist nicht mehr verborgen, Selbstvorwürfe riesig.
Während sie anfangs noch nicht auf dem Bauch liegen wollte, weil es für sie unangenehm war, macht sie es jetzt. Tut alles, um ihren Fehler wieder ein bisschen gut zu machen. Aber wir kennen diese Verläufe halt nur allzu gut. Airvo, reicht nur kurzfristig. Abends auf die ICU.
Meine Kolleg:innen auf der ICU halten sie 2d an einer nicht-invasive Beatmung mit Maske. Zum Schluss kann sie kaum mehr was zu sich nehmen, weil die Sättigung dermaßen abrauscht, wenn man die Maske nur für eine Minute abnimmt.
Zunächst hat sie Angst vor Intubation, nach 2d bittet sie selbst darum, weil körperlich und psychisch am Ende. Beatmung bald am Anschlag. Heute wurde sie von unserer ICU wegtransferiert zur ECMO als letzte Möglichkeit.
52J, wirkt jünger, gesund bis auf etwas Übergewicht, ungeimpft wegen falschen Informationen. Ein Gesicht, das ich nicht mehr vergesse. Und jetzt soll mir jemand sagen, dass man dieser Frau aufgrund ihres Impfstatus eine intensivmedizinische Behandlung verweigern sollen hätte.
Am Laptop oder Handy lassen sich leicht große Forderungen stellen. Aber im wahren Leben haben wir es mit echten Menschen zu tun, die vielleicht weniger klug, gut und schön sind, als wir Geimpften in unserer Überheblichkeit zu sein glauben. Menschen, die einen Fehler machten.
Wenn der Zorn auf die rabiaten Coronaleugner, die uns die Freiheit nehmen, von der sie immer reden, dazu führt, dass wir die Menschlichkeit verlieren, dann haben wir verloren. Und für die Ungeimpften unter euch: LASST EUCH BITTE IMPFEN!
Todesangst von Ungeimpften ist genauso schlimm anzuschauen wie die von Geimpften.
Die Frau kam tatsächlich an die ECMO, ein sehr aufwendiges, komplikationsreiches Verfahren einer künstlichen Lunge, mit dem versucht wird, ein komplettes Lungenversagen zu überbrücken. Sie war wochenlang auf der Intensivstation und sie überlebte. Ihre körperlichen und psychischen Langzeitfolgen kenne ich nicht.
Am selben Tag, als ich den Thread schrieb, erschien eine Podcast-Folge von Andy Slavitt, der zu den Pandemie-Beratern von Joe Biden gehörte, mit dem Arzt und Publizisten Sanjay Gupta. Ab Minute 30 geht es genau um das Thema der Ungeimpften und warum es nicht immer so einfach ist, wie es scheint.