Flashback: Wegen Windpocken auf die Intensivstation
Substack-Artikel vom 12.07.2023:
Nicht nur SARS-Cov-2 ist ein gefährliches Virus.
Als die Pandemie die Spitäler mit unzähligen schwerstkranken Personen füllte, konnte man fast vergessen, dass es da draußen auch andere gefährliche Viren gibt. Diese haben ebenfalls einiges drauf. Vor allem, wenn eine sogenannte Kinderkrankheit einen Erwachsenen erwischt. Das wurde mir vor kurzem wieder einmal deutlich vor die Augen geführt.
Ein Mann, Mitte 30, keine Vorerkrankungen, wurde von der Hautambulanz auf die internistische Notfallaufnahme und von dort zu uns auf die Normalstation zur Aufnahme geschickt, weil “es ihm nicht so gut” gehe.
Nun, das war eine leichte Untertreibung. Die eigenartige Mischung kam mir aufgrund der letzten 3 Jahre bekannt vor: Ein etwas angestrengter Blick, der zeigt, dass etwas ganz und gar nicht stimmt, obwohl er selber noch gar nicht so sehr diesen Eindruck hatte; etwas Atemnot, aber doch viel weniger als die miserable Sauerstoffsättigung annehmen lassen würde; seine Worte, die nicht wirklich verwirrt waren, aber doch nicht ganz zu passen schienen.
Ein Blick auf das Lungenröntgen bestätigte den Eindruck: schwere, dabei noch gar nicht beim Vollbild angekommenen Viruspneumonie.
Der Unterschied war nur, dass es dieses Mal keine positive COVID-PCR gab, stattdessen einen ausgeprägten Hautausschlag. Die Diagnose Windpocken aka Feuchtblattern aka Varizellen war für die Hautambulanz keine große Kunst gewesen, zumal der Mann berichtete, dass seine beiden Kinder vor zwei Wochen einen ähnlichen Ausschlag aus dem Kindergarten nachhause gebracht hatten.
Auch der weitere Verlauf erinnerte sehr an COVID-19 im Herbst 2020. Anfangs auf die Normalstation, ausreichende Sauerstoffsättigung bei 2L/min O2. Eine Stunde später brauchte er schon 7L/min. Ab auf unsere Intensiv ein Stockwerk tiefer. Knapp nach Mitternacht musste der Mann, der am späteren Nachmittag noch gehend ins Spital gekommen war, intubiert werden. 2 Wochen lang künstliche Beatmung, nach insgesamt 3 Wochen Intensivstation zurück auf die Normalstation, körperlich klar auf dem Weg der Besserung, doch psychisch sehr angeschlagen.
Aber er hat überlebt.
Das Varizella-Zoster-Virus (VZV) gehört zu den ansteckendsten Viren, knapp nach Masern und den Omikron-Varianten von SARS-CoV-2. Es wird über die Luft in Aerosolen und Tröpfchen sowie über die hochinfektiösen Krusten der Hautläsionen übertragen. Die Varizellen betreffen meist Kinder und werden deshalb zu den Kinderkrankheiten gezählt. Nach einer Infektion besteht eine lebenslange Immunität (sofern das Immunsystem intakt ist und bleibt).
In den meisten Fällen ist die Krankheit unangenehm, aber harmlos. Komplikationen sind bei Kindern relativ selten, meist handelt es sich um Superinfektionen, bei denen die Hautwunden durch Bakterien infiziert werden. Schwere Komplikationen sind Lungenentzündungen oder auch Schädigungen des zentralen Nervensystems bis zur Hirnhautentzündung oder gar Entzündung des Hirngewebes. Bei Erwachsenen sind die Komplikationen ungleich häufiger als bei Kindern. Lungenentzündungen treten bei Erwachsenen in bis zu 20% der Fälle auf und sie enden in bis zu 30% tödlich.
Besonders gefährdet sind neben Immunsupprimierten und Personen mit schweren chronischen Krankheiten vor allem auch Schwangere. Komplikationen treten bei ihnen um bis zu 10x häufiger auf als bei gleichaltrigen Frauen ohne Schwangerschaft, und sie verlaufen schwerer. Eine Übertragung über die Plazenta auf das Ungeborene ist möglich, eine Schädigung tritt bei bis zu 2% der Babys auf und kann von Hautveränderungen bis zu Hirn- und Augenschäden gehen. Sofern es nicht zu einer Fehlgeburt gekommen ist.
Wenn es kurz vor der Geburt zur Infektion der Mutter kommt, können die besonders gefürchteten neonatalen Varizellen die Folge sein. Früher starb ein Drittel der erkrankten Neugeborenen, inzwischen liegt diese Zahl dank der modernen medizinischen Therapiemöglichkeiten bei immer noch 7% (laut CDC).
Nach der Infektion können sich die Viren in Nervenzellen beim Rückenmark einnisten und dort jahre- bis jahrzehntelang ruhen. Wenn sie - meist ausgelöst durch akute Erkrankungen oder Stress - reaktiviert werden, führt das zur Gürtelrose = Herpes zoster. Die von dieser hervorgerufenen Zoster-Neuralgie kann chronisch und durch die schwer zu behandelnden Nervenschmerzen sehr quälend werden und dadurch die Lebensqualität massiv verschlechtern. Die Bläschen der Gürtelrose sind infektiös.
Wer schon einmal an den Varizellen erkrankt ist, bleibt in der Regel fürs ganz Leben immun.
Für alle anderen gibt es die Möglichkeit einer Impfung. Diese schützt laut einer Studie zu 92% vor einer Erkrankung. Im seltenen Fall einer Durchbruchinfektion ist die Krankheit in der Regel deutlich milder (oft so mild, dass die Infektion gar nicht diagnostiziert wird) und hat deutlich weniger Komplikationen. Der Schutz ist nach 2 Stichen anhaltend (ob für immer ist noch nicht klar).
Das österreichische Nationale Impfgremium (NIG) empfiehlt die Impfung laut Impfplan Österreich (pdf-Datei) analog zur amerikanischen CDC allen Kindern ab dem 2 Lebensjahr sowie allen Jugendlichen und Erwachsenen, die nicht-immun sind (also keine Erkrankung an den Varizellen hinter sich haben). Die Impfung ist leider nicht gratis.
Im Zweifelsfall kann man den VZV-Antikörpertiter bestimmen lassen. Das kann in den meisten ambulanten Labors gemacht werden und kostet rund 30€. Die Kosten werden in Österreich von den Krankenkassen nicht übernommen.
Wie üblich ist das Robert-Koch-Institut bzw. die Stiko in Deutschland restriktiver. Es empfiehlt die Impfung allen Kindern und Jugendlichen sowie den folgenden Risikogruppen:
Achtung: Es handelt sich um einen Lebendimpfstoff. Das heißt er ist für immunkompromittierte Menschen und für Schwangere kontraindiziert! In Sonderfällen gibt es einen Totimpfstoff gegen die Gürtelrose, der allerdings als Varizellen-Impfung nicht zugelassen ist und somit off-label verabreicht werden müsste.
Die Varizellen sind also für Erwachsene und insbesondere für Schwangere keine harmlose Infektion. Die Impfungen sind wirkungsvoll und - bei der üblichen Beachtung der Kontraindikationen - sehr gut verträglich und sicher. Sie verhindern schwere Folgeschäden der Infektion.