Die Vogelgrippe H5N1: "Die Uhr tickt, aber wir wissen nicht, wie spät es ist"
Wir bieten der Vogelgrippe H5N1 reichlich Gelegenheiten, zur Pandemie zu werden.
- Der Ausbruch in den Milchfarmen in den USA ist alles andere als unter Kontrolle. Gleichzeitig verbreitet sich die Vogelgrippe weiter bei Wildvögeln und in Geflügelbetrieben.
- Ein kanadischer Teenager steckte sich an und ist in einem kritischen Zustand.
- Die bei ihm/ihr gefundenen Viren weisen Anpassungen an den Menschen auf.
- Die Eindämmungsmaßnahmen seit völlig unzureichend.
- Donald Trump bringt Impfgegner und Pandemieleugner an kritische Positionen der Public Health.
Irgendwie hat man das Gefühl, dass uns die Vogelgrippe H5N1 immer näher kommt. 2020 tauchte eine neue Subvariante 2.3.4.4b auf, die eine neue Dynamik zur Folge hatte. Erst verbreitete sie sich in Geflügelfarmen und in der Folge auch bei Wildvögeln, deren Bestände teils dramatisch dezimiert wurden. In der Folge erkrankten immer mehr Säugetiere. Zunächst vor allem Raubtiere, die sich durch das Fressen erkrankter Vögel ansteckten. Inzwischen sind Infektionen bei über 200 verschiedenen Säugetierarten nachgewiesen - von Füchsen über Robben bis zu Delphinen. Nicht nur Wildtiere sind betroffen, auch Hauskatzen haben sich schon infiziert ("Bird Flu Is Infecting Pet Cats. Here’s What You Need to Know").
Am Frühling dieses Jahres gab es eine neue Entwicklung. In den USA erkrankten Kühe in Milchkuhfarmen. Es handelt sich wie bei den Wildvögeln um den Subtyp 2.3.4.4b, aber um einem etwas anderen Genotyp. Wie wir inzwischen wissen, steckten sich die Kühe anders als bei der Influenza üblich nicht über die Atemluft an, sondern über die Euter, wo eine besonders hohe Virusreplikation festgestellt wurde ("H5N1 clade 2.3.4.4b dynamics in experimentally infected calves and cows"). Das Virus wird bei den Kühen offenbar vor allem beim Melken verbreitet.
Menschen waren bislang nur sporadisch betroffen. Fast alle waren Arbeiter in Gefügelfarmen oder Milchbetrieben. Anders als bei früheren Subvarianten erkrankten sie meist nur leicht, meist war eine Bindehautentzündung der Augen das Hauptsymptom. Anders als die Katzen, die auf den Farmen leben und die infizierte Rohmilch tranken. Von ihnen starb fast die Hälfte, wie die CDC berichten ("Highly Pathogenic Avian Influenza A(H5N1) Clade 2.3.4.4b Virus Infection in Domestic Dairy Cattle and Cats, United States, 2024").
Über die Situation bis zu den Ausbrüchen bei den Kuhfarmen und auch ein bisschen was Allgemeines zur Vogelgrippe H5N1 habe ich vor einigen Monaten was geschrieben:
Von Schweinen und Menschen
In den letzten Wochen sorgte eine neue Entwicklung für Aufsehen. Ende Oktober sorgte die Infektion eines Schweines auf einem kleinen Bauernhof in Oregon für Aufsehen. Es hatte sich bei Hühnern angesteckt, die auf dem Hof ebenso wie die Schweine frei herumlaufen können.
Schweine gelten als so was wie ein idealer Wirt für die Züchtung neuer Influenzaviren, da sie sowohl Rezeptoren für die Vogel- als auch für die humanen Grippeviren haben. Wenn ein Schwein mit beiden gleichzeitig infiziert ist, könnten sich so neue Virenstämme entwickeln, die für Menschen gefährlich sind. Die Virussequenzierung ergab bei dem Schwein aber keine Unterschiede zu den Viren bei den Hühnern desselben Bauernhofes, wie die US-Landwirtschaftsbehörde vermeldete ("Federal and State Veterinary Agencies Share Update on HPAI Detections in Oregon Backyard Farm, Including First H5N1 Detections in Swine").
Als die Infektion des Schweines an die Öffentlichkeit kam, machte sich die Sorge breit, dass sich das Virus nun von Schwein zu Schwein überspringen könnte, was natürlich viel mehr Möglichkeiten einer gefährlichen Virusevolution bieten würde. Seit dem ursprünglichen Bericht kam aber nichts mehr von den zuständigen Behörden. Nehmen wir dieses Schweigen als Hinweis darauf, dass es zu keinen gefährlichen Mutationen und zu keiner Weiterverbreitung des Virus gekommen ist.
Noch beunruhigender sind zwei Infektionen bei jungen Menschen ("Kind und Teenager in Nordamerika mit Vogelgrippe infiziert").
Anfang November erkrankte ein Teenager in British Columbia, Kanada, schwer an der Vogelgrippe. Den Berichten zufolge hatte er/sie zunächst recht milde Symptome aufgewiesen mit Fieber und Husten und der Bindehautentzündung, die wir von den Milchfarmarbeitern kennen. Nach einigen Tagen verschlechterte sich der Zustand aber deutlich, der Teen musste stationär aufgenommen und rasch auf die Intensivstation verlegt werden, wo er/sie bis dato wegen eines ARDS, einem akuten Lungenversagen, behandelt wird.
Neben dem schweren Verlauf war noch etwas anders als bei den bisherigen H5N1-Infektionen bei Menschen: Der kanadische Teenager hatte keinerlei Kontakt zu Geflügel- oder Milchfarmen gehabt. Die Virussequenzierung deutet darauf hin, dass der Teenager mit einem Mix von Subtypen infiziert ist, die auch bei Wasservögeln in der Region gefunden wurden.
Wirklich besorgniserregend ist aber ein weiteres Ergebnis der Sequenzierung: Es finden sich drei wesentliche Unterschiede: zwei Mutationen, die die Fähigkeit des Virus, menschliche Zellen zu infizieren, verbessern könnten, und eine weitere, die es ihm ermöglichen könnte, sich leichter in menschlichen Zellen zu vermehren, als in den Zellen seines üblichen Vogelwirts. Für besonders Interessierte berichtet der Virusimmunologe Scott Hensley von der University of Pensylvania auf Bluesky etwas detaillierter über die Mutationen:
Wenig später wurde eine Infektion eines Kleinkindes in Kalifornien publik. Dem Vernehmen nach dürfte es bei dem Kind bei einem milden Verlauf geblieben sein. So wie der kanadische Teen hatte das Kind keinen Kontakt zu Farmen.
Sowohl die kanadischen als auch US-Behörden vermeldeten, dass es in der Umgebung der beiden Betroffenen zu keinen weiteren Infektionen gekommen sei. Eine Übertragung von Mensch-zu-Mensch - eine Grundvoraussetzung für den Beginn einer Pandemie - wurde bisher noch bei keiner der humanen H5N1-Infektionen nachgewiesen.
In einem Artikel bei Nature erklärt Scott Hensley:
„Die Fähigkeit, sich an menschliche Zellen zu binden, ist eine Voraussetzung für die Auslösung einer Pandemie. Aber das reicht oft nicht aus.“
Wie viele Sorgen müssen wir uns machen und warum?
Michael Osterholm, weltweit anerkannter Infektionsepidemiologe, der sich sein halbes Leben lang mit der Influenza beschäftigt hat, meinte in seinem Podcast vom 21.November:
"Ich glaube, ich weiß heute weniger über die Grippe als noch vor zehn Jahren."
Zu groß sind die Überraschungen und Wendungen, die uns das Virus in den letzten Monaten geboten hat. Das H5N1-Virus gibt es seit vielen Jahren. Und in all dieser Zeit gelang es ihm trotz vieler Gelegenheiten nicht, dauerhaft auf Menschen überzuspringen. Angesteckt wurden nur Personen, die besonders vielen Kontakt mit erkrankten Vögeln gehabt hatten. Deshalb hielt es Osterholm noch bis vor wenigen Monaten für unwahrscheinlich, dass H5N1 zu einem Problem für uns Menschen werden würde. Andere Influenza-Stämme hielt er für problematischer.
Doch jetzt kam es in kurzer Folge zu vermehrten Infektionen von Säugern, zum großen und weiterhin wachsenden Ausbruch bei den Kühen und schließlich zu den beim Fall des kanadischen Teenagers gefundenen Mutationen, die wir definitiv nicht sehen wollen. Es ist also ziemlich viel Dynamik in die Sache gekommen. Oder in den Worten von Jesse Bloom, der am Fred Hutchinson Cancer Center in Seattle, Washington, virale Evolution erforscht:
„Das deutet darauf hin, dass in diesem Virus an den wichtigen Stellen gerade eine Evolution stattfindet.“
Laut Scott Hensley dürften einige der Mutationen des bei dem zuvor völlig gesunden Teenager gefundenen Virus für den besonders schweren Verlauf der Infektion verantwortlich sein. Die milden Fälle, die bei den Farmarbeitern aufgetreten sind, spiegeln nicht zwangsläufig das Verhalten des Virus wider, wenn es sich in Menschen ausbreitet.
Wie schon weiter oben erwähnt, wurden bisher keine Ansteckungen von Mensch zu Mensch nachgewiesen. Alle, die Kontakt mit den Erkrankten gehabt hatten, blieben gesund, womit derzeit keine unmittelbare Gefahr für eine Pandemie besteht. Für das Virus wurden die bisherigen menschlichen Infektionen quasi zu einer Sackgasse. Wenn das Immunsystem des kanadischen Teenagers das Virus losgeworden sein wird, wird auch die gefundenen Mutationen von der Welt verschwunden sein.
Sie könnten so wie andere Mutationen aber neuerlich entstehen. Und sie werden es, je mehr Möglichkeiten dem Virus geboten werden. Die schiere Menge des Virus in der Umwelt und die tägliche Exposition von Menschen in infizierten Milchvieh- oder Geflügelbetrieben führt zu einer Menge potenzieller menschlicher Expositionen. Scott Henley in einem Artikel von Helen Branswell bei STAT:
„Was man befürchtet, ist eine zufällige Substitution, die während der Infektion auftritt und dem Virus ein günstiges Profil für die Übertragung auf den Menschen verleiht, und die sich dann durchsetzt. Das ist die Angst.“
Der Ausbruch in den Farmen in den USA ist alles andere als unter Kontrolle. Wenn man die Meldungen der nationalen US-Behörde HPAI verfolgt, gibt es fast täglich neue betroffene Betriebe. Bei Erscheinen dieses Artikels (29.11.24) sind 688 Rinderherden in den ganzen USA betroffen, alleine in Kalifornien 474. Über die Dunkelziffer wird nicht einmal spekuliert.
Die USA versagen auf allen Linien bei der Kontrolle des Ausbruchs (wobei ich nicht behaupten möchte, dass es in Europa viel besser liefe). In einem Gastartikel in der New York Times bringt Tulio de Oliveira seine Frustration darüber zum Ausdruck. Der südafrikanische Virologe beschrieb 2021 erstmals die Omikron-Variante von SARS-CoV-2, erlebte mit, wie daraufhin der Tourismus in seinem Land einbrach, und muss nun mitansehen, wie die reiche USA praktisch nichts zur Eindämmung tut:
Dabei sprechen wir noch von den USA vor der zweiten Regierungsperiode von Donald Trump, in der die mit Epidemien befassten Behörden massiv zusammengestutzt werden sollen. Der Verschwörungstheoretiker und bekennende Impfgegner Robert F. Kennedy soll das Gesundheitsministerium übernehmen. Sein Rezept gegen Infektionen: Das Trinken von Rohmilch, das in mehreren US-Staaten trotz des hohen Risikos für allerlei Infektionskrankheiten ohne Auflagen verkauft werden darf.
Da trifft es sich gut, dass in den letzten Tagen in verschiedenen Proben von bereits im Handel befindlicher Rohmilch H5N1-Viren gefunden wurden:
Es ist also angerichtet.
Michael Osterholm, der bis vor einigen Monaten noch recht entspannt war, wenn es um H5N1 ging, sagt jetzt:
"We are going to see an influenza pandemic in the future. We just don't know when. And as we used to say over the years, the pandemic clock is ticking. We just don't know what time it is."