Hat die Pandemie unser Immunsystem zerstört?
Dass COVID-19 eine lang anhaltende, klinisch relevante Schädigung des Immunsystems hervorruft, scheint übertrieben. Airborne Aids sowieso.
Das ist der für mich bisher wohl schwierigste Blogartikel. Nicht nur, dass ich mich als Kliniker auf unsicheres Terrain begebe, wenn es um die berüchtigt hochkomplexe Immunologie geht. Die Frage ist auch eine v.a. in den sozialen Medien erstaunlich emotional geführte. Von der Vorstellung, unser Immunsystem wäre wegen der Masken und anderer Maßnahmen zu wenig trainiert worden, bis zur Behauptung, COVID-19 zerstöre das Immunsystem und wäre sowas wie "airborne AIDS", findet man alles.
Bei manchen Tweets ist die Diktion kaum mehr von der der radikalen Impfgegner zu unterscheiden. (Ok, die Aussagen letzterer haben meist noch weniger Substanz.)
"So viele Kranke wie noch nie"
Seit Oktober schnieft, hustet fiebert alles. Wer nicht schon wieder von COVID-19 erwischt worden ist, ist an einem der anderen respiratorischen Viren erkrankt. Gefühlsmäßig hat es so viele getroffen wie noch nie. Und tatsächlich gab es laut den Daten des Dachverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger noch nie so viele Krankenstände wie in den letzten zwei Wintersaisonen.
Schaut man sich die Daten des Grippemeldedienstes der Stadt Wien an, dann sieht man auf einen Blick, wie enorm die Welle in der Saison 22/23 (grüne Linie) war. Auch 23/24 (schwarz) erscheint lediglich im Vergleich zur Vorsaison mäßig, ist aber im Vergleich auch zu den vorpandemischen Jahren sehr hoch - natürlich auch wegen der weiterhin laufenden COVID-19-Welle.
Ähnliche Kurven lassen sich aus den meisten geografisch vergleichbaren Ländern erheben. Egal, ob man zum Beispiel nach UK blickt oder in die USA.
Im Spätherbst 2022 schlugen zudem die Kinderspitäler Alarm, weil sie die enorme Zahl von kranken Kindern kaum mehr bewältigen konnten. Diesen Herbst sorgten ähnliche Meldungen aus China für Unruhe. Es war von einer neuen Art der Lungenentzündung die Rede. Letztlich dürfte es sich um eine altbekannte Mischung an Viren und des Bakteriums Mycoplasma pneumoniae gehandelt haben. Aber eben mit besonders vielen Betroffenen.
Warum haben die Infektionen so zugenommen?
Sind die Masken schuld? Die Impfungen? Die Maßnahmen allgemein? Haben wir unser Immunsystem zu wenig trainiert? Ist die "Immunschuld" real oder ein gefährlicher Hoax? Oder ist es gar das SARS-CoV-2-Virus, das unser Immunsystem zerstört? "Airborne Aids" haben es einige genannt.
Das Problem beginnt mit der ersten Erwähnung von "immune debt" oder "Immunschuld". Im August 2021 publizierte eine Gruppe von französischen Kinderärzt*innen in einem Fachjournal einen Artikel, in dem sie argumentierten, dass durch die COVID-Maßnahmen und durch die abnehmende Impfbereitschaft die Zahl der ungeschützten Kinder zunehme und dass man sich auf die zu erwartende Zunahme von Infektionskrankheiten abgesehen von COVID-19 vorbereiten müsse ("Pediatric Infectious Disease Group (GPIP) position paper on the immune debt of the COVID-19 pandemic in childhood, how can we fill the immunity gap").
Bereits im Titel verwendeten sie - erstmals - den Begriff "Immunschuld". Möglicherweise waren sie selbst mit der Wortwahl nicht glücklich, weshalb sie ihn noch im Titel selbst durch das Wort "Immunitätslücke" präzisierten. Der Begriff bekam dennoch ein Eigenleben. Während die Autoren nichts anderes meinten als die größere Zahl an Kindern, die zu einer Reihe von Erregern noch gar keinen oder schon länger keinen Kontakt mehr gehabt hatten, wurde er bald fälschlich als "untrainiertes Immunsystem" missverstanden.
Das "untrainierte Immunsystem"
Nein, das Immunsystem muss nicht trainiert werden. Sofern es nicht durch Medikamente oder Krankheiten geschwächt ist (dazu später), ist es ohne Training bereit, auf Erreger zu reagieren. Stärkung oder Training des Immunsystems ist etwas aus die Werbung für Nahrungsergänzungsmittel. Brauchen tun wir das nicht, wie Christian Drosten 2021 etwas genervt tweetete.
Die logische Konsequenz der - falschen - Interpretation der Immunschuld war der Glaube, dass man Infektionen brauche, um vor Infektionen geschützt zu sein. Für diese Vorstellung hat Florian Krammer ein Wort parat: "Bullshit".
Immunitätslücke / Nachholeffekt
Aber wie gesagt, meinten nicht einmal die Schöpfer des Begriffs selbst, dass das Immunsystem an sich untrainiert wäre. Sie wiesen lediglich darauf hin, dass durch die COVID-Maßnahmen viel weniger Kinder einer Reihe von Erreger ausgesetzt und somit auch noch keine spezifische Immunabwehr gegen sie entwickelt hatten, sodass nach Beendigung der Maßnahmen zu erwarten sei, dass mehr Kinder sich anstecken würden. Genau das trat dann auch ein. Das ist die Immunitätslücke, die kein neues Konzept ist.
Wenn wir mit einem für uns neuen Erreger konfrontiert sind, sind wir auf das angeborene oder unspezifische Immunsystem angewiesen, das schnell, aber eben nicht sehr zielgerichtet agiert. Oft ist es ausreichend, um eine Erkrankung zu verhindern, aber eben nicht immer.
Die zielgerichtete und stärkere Abwehr läuft über das spezifische Immunsystem, über die T-Zellen und die von den B-Zellen produzierten Antikörper. Beim erstmaligen Kontakt mit einem Erreger fehlen die aber noch und brauchen ein bis zwei Wochen, bis sie sich entwickelt haben. Bei neuerlichem Kontakt ist das spezifische Immunsystem sehr viel schneller zur Stelle. Noch im Blut oder in den Schleimhäuten vorhandene Antikörper und Gedächtniszellen - spezialisierte T- und B-Zellen - lösen innerhalb weniger Stunden eine Immunantwort aus. Wenn man noch nie Kontakt zu diesen Erregern hatte, ist man weniger gut geschützt.
Das Immunsystem als ganzes ist dann aber nicht "schwächer", es ist lediglich gegen einen bestimmten Erreger weniger gut gewappnet. Das ist der Grund, warum europäische Tropenurlauber viel häufiger Durchfallerkrankungen bekommen als die Einheimischen, wenn sie das gleiche essen und trinken. Es ist einer der Gründe, warum die indigene Bevölkerung Amerikas im 16.Jahrhundert von gleich mehreren katastrophalen Epidemien durch von den Europäern eingeschleppte Erreger betroffen waren. Und es ist natürlich auch das Grund, warum COVID-19 im Jahr 2020 so viel häufiger tödlich verlief als jetzt.
In diesem Blog habe schon einmal beschrieben, was passieren kann, wenn man als Erwachsener gegen ein angeblich harmloses Virus keine Immunität aufgebaut hat. Da werden auch die durch das Varicella zoster-Virus hervorgerufenen Windpocken zur Lebensgefahr.
Im Falle von RSV bei Kleinkindern war es so, dass es 2020/21 kaum Übertragungen passierten. Ein Jahr später konnte sich das Virus wieder verbreiten und fand mehr immunnaive Kinder vor als normalerweise. In einem britischen Fachartikel werden die Folgen eindrücklich beschrieben. Während es 2020/21 (in der Grafik dunkelgrün) fast keine RSV-Fälle gab, folgte 2021/22 (dunkelrot) eine umso früher einsetzende und vor allem viel größere Welle:
Es gibt also eine gute Erklärung für die RSV-Wellen. Aber das beweist noch nicht, dass es nicht doch an einem geschwächten Immunsystem liegen könnte. Da lohnt sich ein Blick nach Neuseeland, ein Land, das durch konsequente Politik und eine günstige geografische Lage sehr lange fast keine COVID-Fälle hatte. 2020 gab es auch dort nur sehr wenige Fälle von RSV. Als die Maßnahmen gelockert wurden, schossen sie auch dort in die Höhe, und zwar bevor sich dort COVID-19 festsetzte. Bis zum Ende der Beobachtungszeit dieser Studie hatte es in Neuseeland erst eine einzige stationäre Aufnahme eines Kleinkindes wegen COVID-19 gegeben. COVID-19 selbst kann also nicht der Grund für die dortige RSV-Welle gewesen sein.
Schwächung des Immunsystems durch COVID-19?
Wenn man in den social media die Begriffe "Immunitätslücke" oder "Nachholeffekt" auch nur erwähnt, wird man sehr rasch mit dem Vorwurf der Verharmlosung von COVID-19 konfrontiert. Das passiert selbst dann, wenn man einen eigenen Blog hat, der fast ausschließlich die Gefahren von COVID-19 zum Thema hat. Man negiere, dass das Immunsystem durch SARS-CoV-2 "zerstört" werde, und natürlich: "Airborne Aids!!!"
Steckt da ein Körnchen Wahrheit dahinter? Macht COVID-19 unsere Abwehr kaputt? Wie so oft, ist die Sache etwas komplexer als vermutet.
Nach einer Erkrankung an COVID-19 ist das Immunsystem für einige Zeit geschwächt. Das ist nicht außergewöhnlich - verschiedene Virusinfektionen führen zu einer vorübergehenden Schwächung der körpereigenen Abwehr. Im Spital sehen wir nach einer Grippeerkrankung, aber eben auch nach COVID-19 gehäuft bakterielle Infekte, die manchmal noch während des stationären Aufenthaltes auftreten. Diese Infekte sind so häufig, dass sie einen eigenen Namen haben: Sekundärinfektionen.
Diese klinisch tatsächlich zu beobachtende erhöhte Anfälligkeit für Sekundärinfektionen dauert je nach Art und Schwere des Primärinfektes, Vorerkrankungen etc. einige Wochen bis wenige Monate an. Die Sekundärinfektionen sind dabei ein echtes medizinisches Problem und sind v.a. bei vulnerablen Personen gar nicht so selten der eigentliche Grund für einen Todesfall nach gerade erst "überstandenen" COVID-19.
Langanhaltende Schädigung des Immunsystems?
Aber es gibt es auch Berichte über eine längerfristige Schädigung des Immunsystems. Ein wortgewaltiger Vertreter dieser Ansicht ist der auf X sehr aktive Anthony Leonardi, der bereits seit 2020 von einer anhaltenden Schädigung der T-Zellen durch COVID-19 schreibt und auch nicht müde wird zu erklären, dass er der erste gewesen sei, der dies erkannte.
Eine echte Bewertung seiner Behauptungen würde meine immunologischen Kenntnisse als Kliniker überfordern. Ich nehme an, dass seine Fanbase auch nicht viel mehr von Immunologie versteht. Also schauen wir mal, was andere Immunologen über eine anhaltende Schädigung des Immunsystems sagen.
Nach COVID-19 finden sich im Blut weniger T-Zellen. Bedeutet das eine Schwächung des Immunsystems?
Onur Boyman, Direktor der Klinik für Immunologie am Universitätsspital Zürich:
"Das ist eigentlich genau das, was wir erwarten. Denn wenn die T-Zellen effektiv aktiviert werden, wandern sie in die Lymphknoten und verschwinden deshalb aus dem Blut. [Zudem] gibt es auch eine so genannte Bystander-Aktivierung durch die Entzündungsreaktion. Dadurch wird ein Großteil der benachbarten T-Zellen angeregt, in die Lymphknoten zu wandern." (Quelle)
Die Abnahme der Lymphozyten im Blut ist also laut ihm keine Zerstörung der Zellen, sondern eine Verschiebung in die Lymphknoten, den Hauptort ihrer Funktion. Zudem zeigt sich, dass die betroffenen Lymphozyten zwar 12 Wochen nach der Infektion stark verringert waren. Nach 24 Wochen hatte sich ihre Anzahl aber wieder so weit erhöht, dass sie im Mittel auf dem Niveau wie bei den Nichtinfizierten war.
Nach COVID-19 finden sich im Blut relativ gesehen mehr reife, aber weniger junge, unreife Lymphozyten. Ist das eine vorzeitige Alterung des Immunsystems?
Martina Prelog, Immunologin an der Uniklinik Würzburg:
"Das könnte man als Merkmal einer vorzeitigen Immunalterung fehlinterpretieren. Aber das ist eigentlich keine richtige Alterung des Immunsystems, sondern eine relative Verschiebung und ein Differenzierungszeichen." Denn nach dem Infekt sind zwar sehr viele Gedächtniszellen und Effektorzellen im Blut. Diese ziehen sich mit der Zeit aber zurück, unter anderem in die Lymphknoten und das Knochenmark. Zugleich kommen unreife, naive Abwehrzellen nach und das Verhältnis der Abwehrwellen pendelt sich wieder auf Normalmaß ein. In dieser Phase nach der Infektion reagiert das Immunsystem also etwas anders, zum Beispiel durch viele regulatorische Abwehrzellen, die die Entzündungsreaktion durch den Infekt wieder nach unten bremsen, aber: "Was man als Immunschwäche interpretieren könnte oder als Alterung des Immunsystems, ist, dass es Eigenschaften eines gealterten Immunsystems aufweist, aber nicht, dass es tatsächlich gealtert ist." (Quelle)
Was ist mit anderen Studien, die eine Schädigung der Monozyten, Zellen des unspezifischen Immunsystems, zeigen?
Margarita Dominguez-Villar, deren Arbeitsgruppe einen Artikel dazu im Nature publizierte, der für viel Aufregung sorgte:
"Plötzlich sehe ich, dass mein Beitrag etwa 1.000 Mal retweetet wird. Ich glaube, das hat eine Menge Panik ausgelöst, obwohl es keine geben sollte."
Wie so oft in der Immunologie ist die Sache offenbar nicht so einfach, wie man als Laie vermuten würde.
Der klinische Aspekt
Wenn es wieder einmal kompliziert und unübersichtlich wird, schauen wir Kliniker uns gerne handfeste Hinweise an. Also in diesem Beispiel, ob tatsächlich verstärkt Infekte auftauchen, die man auch eine anhaltende Schwächung des Immunsystems zurückführen kann.
Der Infektionsepidemiologe Robert Zangerle, der eine reichhaltige Erfahrung mit HIV hat, nahm in einer seiner Seuchenkolumnen die Tuberkulose als Indikator für eine Immunschwäche:
"Die Häufigkeit der Tuberkulose wäre global der beste Indikator für eine durch Covid verursachte Schädigung des Immunsystems nach der Infektion. Etwa 1/3-1/4 der Weltbevölkerung (~2-3 Mrd. Menschen) ist latent mit Tuberkulose infiziert, wobei die latente Tuberkulose bei immungeschwächten Menschen in eine aktive Erkrankung übergeht. Die Inzidenz aktiver Tuberkulose ist aufgrund der Unterbrechung der Test- und Behandlungsprogramme gestiegen, was einen großen Rückschlag für die Tuberkulosebekämpfung darstellt. Der Anstieg der aktiven TB-Inzidenz bleibt jedoch moderat und stützt nicht die Hypothese der Immunschädigung durch Covid."
Und Sylvia Kerschbaum-Gruber, Molekularbiologin an der MedUni Wien, nimmt die Hybridimmunität aus Zustand nach Impfung plus Infektion, die den besten Schutz gegen einen schwereren Verlauf von COVID-19 bietet, als Hinweis gegen eine klinisch relevante Schädigung des Immunsystems:
"Würde Covid das Immunsystem zerstören, gäbe es keine Hybridimmunität." [...] Die Angst vor dem womöglich zerstörten Immunsystem erklärt die Expertin dadurch, dass Studienergebnisse häufig fehlinterpretiert oder verallgemeinert werden. "Für eine richtige Interpretation ist wichtig, wer untersucht wurde, wann nach der Infektion die Messungen durchgeführt wurden und wo man die Veränderungen gemessen hat." (Quelle)
Also Entwarnung?
Nicht ganz.
Abgesehen von all den anderen Folgen, die COVID-19 - selbst nach leichtem Verlauf - haben kann, ist die Möglichkeit einer vorübergehenden Schädigung des Abwehrsystems evident. Wie der Rest des Körpers braucht auch das Immunsystem eine Zeit, um sich wieder zu erholen. Das mehrere Wochen dauern, je nach Schwere der Erkrankung, Alter und Komorbiditäten auch mehrere Monate.
Wahrscheinlich trifft es Emanuel Wyler, Max Delbrück Center für Molekulare Medizin, am besten (Quelle):
"Auf einer Skala, auf der ein Rhinovirus kaum bis keinen Schaden am Immunsystem anrichtet und HIV es komplett zerstört, würde ich Sars-CoV-2 […] irgendwo in der Mitte verorten."
Aber es handelt sich ganz bestimmt nicht um etwas mit Aids vergleichbarem. Das sagt auch Anthony Leonardi:
"Die Beschreibung von SARS-CoV-2 als 'airborne AIDS' ist extrem übertrieben und emotional aufgeladen. [...] Wenn man so sehr übertreibt, erweist man den wahren und realen Erkenntnissen, dass SARS-CoV-2 dem Immunsystem tatsächlich schaden kann, einen Bärendienst." (Quelle)
Long Covid
Es gibt eine große Gruppe von Personen, die doch gehäuft eine anhaltende Schädigung des Immunsystems wegen COVID-19 haben: Eine Immunschwäche kann eine Teil von Long Covid sein. Das ist ein ganz eigenes Kapitel, auf das ich hier nicht eingehe. Aber es soll nicht unerwähnt bleiben.