Es ist alles sehr kompliziert.

Die Kranken im Spital werden medizinisch immer komplexer. Was alle aus dem Gesundheitspersonal längst spürten, wurde nun in einer große Studie belegt. Aber die Gesundheitsversorgung ist darauf schlecht vorbereitet.

Es ist alles sehr kompliziert.

Als ich noch Assistent an der Uniklinik war, beschimpfte ein von sich selbst sehr eingenommener Klinikchef uns Assis bei der Visite, weil wir nicht alle Laborwerte all unserer Patienten auswendig wussten. Er hätte als Assistent immer alle Befunde gewusst. Die die Visite begleitende Krankenschwester meinte darauf trocken: "Zu ihrer Zeit erhoben wir pro Patient einmal pro Woche 10 Werte. Jetzt werden alle zwei Tage 60 Laborwerte bestimmt."

Mit ihrer kurzen Bemerkung beschrieb sie aber auch etwas, das alle im Medizinbetrieb arbeitenden Personen spüren: Die Medizin wird immer komplexer und damit komplizierter. Wir alle sehen die Veränderung gegenüber der Zeit vor 10, 20 oder noch mehr Jahren - je nach Berufserfahrung halt. Und wir merken, dass die Gesundheitspolitik darauf recht wenig Rücksicht nimmt. Es werden Köpfe von Behandelnden ("Vollzeitäquivalente" werden wir genannt) und Behandelten gezählt. Wie aufwändig die Behandlung geworden ist, spielt nur eine untergeordnete Rolle.

Umso größer war das Interesse unter uns Klinikerinnen und Klinikern, als vor wenigen Wochen in JAMA Internal Medicine eine kanadische Studie erschien, die anhand eines riesigen Datenpool die Komplexität erhob (Volltext nicht frei zugänglich):

Population-Based Trends in Complexity of Hospital Inpatients
This cohort study assesses whether there has been an increase in measures of hospital inpatient complexity in British Columbia, Canada, over a 15-year period.

Die Studie

Die Arbeitsgruppe aus Vancouver analysierten die Komplexität aller ungeplanten Hospitalisierungen von Personen ab 18 in British Columbia von 2002 bis 2017 (ausgenommen Geburten und Schwangerschaftskomplikationen). Zu den Maßstäben für die Komplexität gehörten Patientenmerkmale zum Zeitpunkt der Aufnahme wie z.B. fortgeschrittenes Alter, Multimorbidität, Polypharmazie, kürzliche Krankenhausaufenthalte; weiters Merkmale des Krankenhausaufenthalts wie z.B. Aufnahme über die Notfallambulanz, mehrere akute medizinische Probleme, Inanspruchnahme der Intensivpflege, verlängerte Aufenthaltsdauer, Komplikationen, Tod im Krankenhaus sowie die 30-Tage-Ergebnisse nach der Krankenhausentlassung (z.B. ungeplante Wiederaufnahme, Gesamtmortalität).

Fast alle dieser Parameter zeigten im Verlauf der 15 Jahre eine zunehmende medizinische Komplexität bei den aufgenommenen Patientinnen und Patienten an. Insbesondere die Aufnahmen über die Notfall, die Zahl der gleichzeitig bestehenden akuten medizinischen Probleme und die Polypharmazie hatten deutlich zugenommen. Das Outcome (ungeplante Wiederaufnahmen und Tod innerhalb von 30 Tagen nach der Entlassung) hatte sich dagegen kaum verändert.

Relative Entwicklung der verschiedenen Parameter im Zeitverlauf von 2002 bis 2017. Die senkrechte Linie in der Grafik rechts entspricht einer unveränderten Komplexität. Je weiter nach recht der Marker steht, umso mehr hat die Komplexität zugenommen.

Im Zeitverlauf nahmen die meisten erhobenen Parameter im Zeitverlauf der 15 Jahre zu.

Parameter im Zeitverlauf: A Alter, B Komorbiditätsscore, C Zahl der Medikamente, D Spitalstage im vorigen Jahr

Die Zahl der Komplikationen sowie die Dauer des Aufenthaltes auf Intensivstationen bzw. im Spital nahm gegen Ende des Beobachtungszeitraumes sogar wieder ab. Trotz der höheren Komplexität wurde das Outcome des stationären Aufenthaltes kaum schlechter (siehe auch die entsprechenden Parameter in der ersten Grafik).

Parameter im Zeitverlauf: E aktive medizinische Probleme, F Komplikationen und Nebenwirkungen, G Dauer des Intensivaufhaltes, H Dauer des gesamten stationären Aufenthaltes

Die einzelnen Parameter stiegen meist nur mäßig an, gemeinsam führte dies aber zu einem substantiellen Anstieg der Komplexität. Zudem beschrieben die Autoren, dass insbesondere die Prävalenz von einzelnen Patientinnen und Patienten, die medizinisch besonders komplexe Probleme haben, deutlich angestiegen ist.


Warum wird alles komplizierter?

Es klingt vielleicht paradox, aber ein beträchtlicher Teil des in der Studie beschriebenen Trends dürfte auf die Erfolge der modernen Medizin zurückzuführen sein. Nicht nur, aber auch wegen Fortschritten in der Medizin steigt die Lebenserwartung seit Jahrzehnten (unterbrochen von einem Einbruch durch die COVID-19-Pandemie). Viele Krankheiten werden früher diagnostiziert. Sie können besser behandelt werden, aber nur selten geheilt. Die Menschen leben im Durchschnitt länger und besser mit chronischen Krankheiten. Sieht man diese Menschen als medizinische Fälle, sind sie komplexer.

Als ich ein Kind war, starben die meisten alten Menschen an "Altersschwäche". Dieser Begriff ist fast völlig aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Jetzt versterben Personen mit einer HFrEF (Herzinsuffizienz mit reduzierter Ejektionsfraktion) auf Basis einer ischämischen CMP (Kardiomyopathie), die noch mit 85 Jahren eine TAVI (Transkatheter-Aortenklappenimplantation), also einen interventinellen Aortenklappenersatz ohne Operation am offenen Herzen, erhalten haben, und an einer chronischen Niereninsuffizienz G3bA3 nach der CGA-Klassifizierung leiden, letztlich mit 92 an den Folgen einer Aspirationspneumonie. Und die Angehörigen sind dann häufig überrascht, wie das passieren konnte, wo der Opa doch noch so gut beinander gewesen sei.

Wir haben heute eben viel mehr und vor allem nebenwirkungsärmere Medikamente zur Verfügung als noch vor 10 oder 20 Jahren. Genauso wie die Chirurgen nun ganz andere technische Möglichkeiten haben. Operationen, die früher noch eines 20cm-Schnittes quer über den Bauch bedurften, werden jetzt mittels Laparoskopie erledigt, sind somit viel weniger invasiv und können somit bei chronisch kränkeren, älteren Personen durchgeführt werden.

Weil wir so vieles besser behandeln können, nimmt auch die Polypharmazie zu - die Verschreibung einer langen Liste an Medikamenten, die die Patientinnen und Patienten schlucken und wir im Detail kennen sollen. Ich war vor einigen Jahren auf einem Seminar zur Geriatrie - der Altersheilkunde. Der erste Vortrag hatte die Polypharmazie zum Thema und warum wir sie vermeiden sollte. Alle anderen Vorträge hatten einzelne Krankheiten zum Thema. Uns wurde überzeugend nahegebracht, warum man auch und gerade im Alter die Schilddrüsenunterfunktion substituieren soll, das Cholesterin senken, den Bluthochdruck runterholen, das Blut verdünnen. Wie das alles aber ohne Polypharmazie gehen soll, erzählte uns keiner.

Was bedeutet das für das Gesundheitssystem?

Während wir im Gesundheitsbetrieb arbeitenden mit immer komplexeren, aufwändigeren Patientinnen und Patienten zu tun haben, nimmt das Personal nicht zu, sondern eher ab. Wien zum Beispiel ist in den letzten 30 Jahren um eine halbe Million Einwohner gewachsen. Die Zahl der Spitalsbetten und des Personals stagniert aber bestenfalls, obwohl die ambulante Betreuung nicht nennenswert ausgebaut worden ist. Weniger Betten relativ zur Bevölkerungszahl, dafür mehr Aufwand pro Patient. Eine schlechte Mischung.

In einem Kommentar zur Studie (nicht frei abrufbar) schreibt der Harvard-Internist Daniel Blumenthal:

Nach der COVID-19-Pandemie stehen die Gesundheitssysteme
Gesundheitsversorgungssysteme vor enormen Herausforderungen in Bezug auf das Personal, einschließlich einer noch nie dagewesenen Rate von Burnout und Fluktuation bei Klinikern. In diesem Moment müssen die politischen Entscheidungsträger und die Leiter der Gesundheitssysteme - wir alle aufhören, von Klinikern an vorderster Front zu verlangen, mit weniger mehr zu weniger zu tun. Stattdessen müssen wir weiter in unsere Belegschaft und in die Systeme und Pflegemodelle investieren, die notwendig sind, um eine alternde und medizinisch immer komplexere Bevölkerung wirksam zu versorgen.

Fazit

In einer großen, über einen von Zeitraum von 15 Jahren laufenden kanadischen Studie wurde das gezeigt, was wir in der Klinik alle längst fühlen: Die medizinische Versorgung wird immer schwieriger, weil die (Spitals-)Patientinnen und Patienten medizinisch immer komplexer werden.

Dies ist einer der Gründe, warum immer mehr aus dem Gesundheitspersonal sich nach anderen Berufsfeldern umsehen, was die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung noch schwieriger macht. In den diversen sozialen Medien findet man unter dem Hashtag #MedizinBrennt zahlreiche Berichte - vor allem von frustriertem Pflegepersonal, das am meisten vom Personalmangel betroffen ist.

Die Gesundheitspolitik steht vor großen Herausforderungen.