Krankenstände nehmen zu. Liegt's an Sozialmissbrauch oder an den Viren?

Krankenstände nehmen zu. Liegt's an Sozialmissbrauch oder an den Viren?
Photo by Rex Pickar / Unsplash
  • Die Zahl der Krankenstandstage war in den letzten Jahren deutlich höher als zuvor.
  • Der Chef der Wirtschaftskammer Österreich und der Arbeitgeberchef der Gesundheitskasse führten dies in erster Linie auf Sozialschmarotzer zurück. Eine Pandemie erwähnten sie nicht.
  • Eine Studie aus den USA, wo es kaum bezahlte Krankenstände gibt, zeigt eine anhaltende Zunahme der Krankenstände im Vergleich zu vor der Pandemie.
  • Die durchschnittliche Zahl der Krankenstände war in den USA 2024 so hoch wie vor der Pandemie zur Spitze der Influenzawellen.
  • Die Krankenstände korrelieren gut mit der Virusaktivität im Abwassermonitoring.

Vor Kurzem kündigte Finanzminister Marterbauer Maßnahmen an, um Steuerbetrug einzudämmen. Die angeschlagene Staatskasse Österreichs könnte die von ihm prognostizierten zusätzlichen eineinhalb Milliarden Euro gut gebrauchen. Die Reaktion der Wirtschaftskammer kam prompt. Marterbauers Pläne seien einseitig, man dürfe den Sozialmissbrauch nicht ignorieren, verkündete der WKO-Chef Danninger. Neben der Arbeitslosenversicherung ging es ihm dabei vor allem um Krankenstände, wie der Boulevard berichtete.

Prompt bestätigte Peter McDonald, der von der Arbeitgeberseite kommende Chef der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK), dass die Zahl der Krankenstände tatsächlich in den letzten 15 Jahren deutlich zugenommen habe, und kündigte an, man werde verstärkt gegen den "E-Card-Urlaub" vorgehen. Der Boulevard freute sich, endlich wieder einmal über eine "Aktion scharf" gegen Sozialschmarotzer berichten zu dürfen, samt Foto so eines Schmarotzers mit TV-Fernsteuerung in der Hand und Pizzakarton auf dem Bauch:

„Aktion scharf“ gegen Betrug beim Krankenstand
Kurzzeitige Krankenstände haben sich in rund 15 Jahren verdoppelt. ÖGK-Chef Peter McDonald will jetzt verstärkt gegen „E-Card-Urlaub“ vorgehen und…

Vielleicht gibt es valide Zahlen zu ungerechtfertigten Krankenständen. Weder die Wirtschaftskammer noch die ÖGK und schon gar nicht die Kronenzeitung legen diese aber vor. So müssen wir eben selber schauen, ob es neben Schmarotzertum noch andere Gründe für eine Zunahme der Krankenstandstage geben könnte.

Die Krankenstandstage nahmen tatsächlich zu

Die durchschnittliche Zahl der Krankenstandstage pro erwerbstätiger Person in Österreich ist öffentlich einsehbar. Der Dachverband der Sozialversicherungsträger hat die Zahlen, die Statistik Austria fasst sie zusammen. Die Grafik zeigt die Entwicklung der Krankenstandstage seit 2000:

Quelle: Statistik Austria. Anmerkung: COVID-Krankenstände werden erst seit Sommer 2022 in dieser Statistik erfasst. Vorher wurden sie laut Epidemiegesetz getrennt erfasst.

Ich bin weder Ökonom noch Statistiker, aber für mich zeigt die Grafik ziemlich eindeutig, dass es zu keinem kontinuierlichen Anstieg gekommen ist. Im Gegenteil blieben Zahlen über zwei Jahrzehnte stabil bis leicht abnehmend. Und dann kamen 2022 mit einem plötzlichen Sprung, einem weiteren (geringen) Anstieg 2023 und einem (geringen) Abfall 2024 auf das Niveau von 2022. Man könnte sich also fragen, woran das liegt. Hat es etwas mit einer Krankheit zu tun, die in den beiden Artikeln der Kronenzeitung nicht einmal erwähnt wird?

Das Augenfällige liest man in einem Artikel des Standard, in dem die Behauptungen der Wirtschaftskammer etwas genauer angeschaut werden:

"Die Erhöhung führen Fachleute hauptsächlich auf die Folgen der Pandemie zurück, zumal es in anderen Staaten ähnliche Entwicklungen gab. Die Anzahl der Krankenstandstage variiert in Europa zum Teil recht stark – abhängig davon, wie gut Krankenstände arbeitsrechtlich abgesichert sind. In Deutschland, wo die Situation ähnlich wie in Österreich ist, lag der Wert 2024 bei 14,8 Tagen. Auch dort gab es im Jahr 2022 einen Sprung nach oben."
Wirtschaftskammer kampagnisiert gegen Krankenstände – und verwendet dabei fragwürdige Zahlen
“Milliarden” entgehen der Wirtschaft, weil Arbeitnehmer Krankheiten vortäuschen, behauptet die Kammer und spricht sich für schärfere Kontrollen aus. Belege für diese hohen Zahlen gibt es keine

Impfungen

Leider erfahren wir in dem Artikel nicht, wer die Fachleute sind, und wie sie zu ihrer Überzeugung über die Ursache des Anstiegs kommen - so naheliegend diese auch ist.

Wie kann man aber feststellen, ob die Zunahme der Krankenstandstage tatsächlich etwas mit der Pandemie zu tun hat oder doch eher mit faulen Arbeitnehmern? Gäbe es doch nur ein Land ohne bezahlte Krankenstände, wie wir sie kennen.

Auswirkung von COVID-19 auf den Arbeitsmarkt in den USA

Im Land of the Free haben nur 18 der 50 Bundesstaaten gesetzliche Regelungen für einen bezahlten Krankenstand, und auch dort ist dieser nicht im entferntesten vergleichbar mit den Regelungen bei uns - zumindest wenn man den Angaben von Wikipedia glauben darf.

Sick leave in the United States - Wikipedia

Ein großer Teil der Krankenstände in den USA ist also unbezahlt. Krankfeiern, wie es die Wirtschaftskammer in Österreich vermutet, wird es in den USA also kaum geben. Also sollte es dort zu keinem Anstieg der Krankenstände gekommen sein, oder?

Praktisch, dass vor kurzem eine Studie publiziert wurde, die sich just die Zahl der (großteils unbezahlten) Krankenstände in den USA im Zeitverlauf anschaute ("Enduring Outcomes of COVID-19 Work Absences on the US Labor Market"). Für diese Studie wurden Daten von über 150 Millionen Arbeitnehmer*innen erhoben. Die Krankenstände vor der Pandemie (Jänner 2015 bis Februar 2020), während der Pandemie bis zum Ende der von der WHO ausgerufenen weltweiten Gesundheitsnotlage (März 2020 bis April 2023) und der hier "postpandemische Phase" genannten Zeit (Mai 2023 bis zum Studienende im Dezember 2024) wurden verglichen.

Hier zeigte sich ein deutlicher Anstieg der Krankenstände in der pandemischen Phase im Vergleich zur vorpandemischen Zeit. In der "postpandemischen Phase" nahm die Zahl der Krankenstände wieder ab, blieb aber um 12,9% höher als vor der Pandemie. Über das ganze Jahr 2024 hinweg war die gemittelte Zahl der Krankenstände vergleichbar mit jener zu den Spitzen der Influenza-Saisonen vor der COVID-Pandemie.

Immer dann, wenn im ab Jänner 2022 durchgeführten Abwassermonitoring besonders viele SARS-CoV-2-Genkopien gemessen wurden, befanden sich mehr Menschen im Krankenstand. In der folgenden Grafik ist die Korrelation zwischen der Virusaktivität und den Fehlzeiten klar zu sehen:

Schwarz: monatliche gesundheitsbedingte Fehlzeiten in Millionen für die gesamte USA. Blau: COVID-19-Virusaktivität im Abwasser (ab Januar 2022 verfügbar).

Wie gut die Virusaktivität mit den Fehlzeiten korreliert, zeigen folgende Grafiken:

In der "postpandemischen Phase" ist die Korrelation sogar noch enger. So nebenbei zeigt sich auch, dass sich bei gleich hoher Virusaktivität weniger Personen so krank fühlen, dass sie - großteils unbezahlt - zu Hause bleiben, als es in der Hochphase der Pandemie noch der Fall gewesen ist.

Die Studienautor:innen erhoben auch die Influenza- und die RSV-Aktivität. Beide korrelierten nicht mit den Fehlzeiten. Ein weiterer Hinweis, dass die Zunahme der Krankenstände tatsächlich in erster Linie auf COVID-19 zurückzuführen ist.

Arbeitnehmer:innen mit einem geringeren Infektionsrisiko in der Arbeit aufgrund der größeren Möglichkeit zur Arbeit im Home Office und/oder weniger engem Kontakt mit Mitarbeiter:innen hatten insgesamt weniger Fehlzeiten. Ihre Zahl der Krankenstände war in der "postpandemischen Phase" mit jener vor der Pandemie vergleichbar, während Arbeitnehmer:innen mit mehr Präsenz und engerem physischem Kontakt anhaltend signifikant mehr Krankenstände in Anspruch nehmen mussten. Wohlgemerkt großteils unbezahlt und häufig in Jobs am unteren Ende der sozialen Hierarchie.

Schließlich erhoben die Autor:innen die Zahl der Arbeitnehmer:innen, die längerfristig aus dem Arbeitsprozess ausschieden. Auch hier war die Zahl mit Beginn der Pandemie deutlich höher als zuvor und kehrte bis jetzt nicht mehr auf das präpandemische Level zurück:

Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess im Vergleich zum präpandemischen Durchschnitt.

Gregg Gonsalves, Infektionsepidemiologe in Yale und Seniorautor der Studie, fasste die Ergebnisse knapp so zusammen:

"Uns wurde gesagt, dass COVID vorbei sei und wir uns keine Sorgen mehr darüber machen müssten, aber die Turbulenzen auf dem Arbeitsmarkt halten weiterhin an." (Quelle)

Virus oder Faulheit?

Auf einen Vergleich der Kosten von Betrug durch vermeintlich ungerechtfertigte Krankenstände mit jenen durch Steuerbetrug im großen Stil möchte ich an dieser Stelle ebenso wenig eingehen wie auf die politische Frage, warum immer dann, wenn jemand (in diesem Fall der österreichische Finanzminister) gegen Korruption vorgehen möchte, als Antwort "aber der Sozialbetrug" kommt.

Naheliegend ist allerdings, dass wir seit 2020 ein neues Virus zusätzlich zu den uns schon bekannten haben. Auch wenn sein Impact nicht mehr mit dem der ersten Jahre der Pandemie vergleichbar ist, macht es doch noch immer viele Menschen so krank, dass sie nicht arbeiten können, selbst wenn sie wollen. Gerade jetzt erleben wir ja eine neuerliche Welle mit spürbaren Auswirkungen auf die Arbeitswelt. In den Tests der Wiener Virologie wird SARS-CoV-2 mit 19% derzeit nur von den relativ harmlosen Rhinoviren (40%) übertroffen.

Und ja, Infektionskrankheiten können nicht nur gesundheitliche Konsequenzen für die Betroffenen haben, sie sind auch teuer. Thomas Czypionka, Gesundheitsökonom am Institut für Höhere Studien, errechnete für das Jahr 2022 alleine in Österreich Kosten von bis zu €4 Milliarden wegen der Fehlzeiten. Behandlungskosten und etwaige Folgekosten sind hier noch nicht inkludiert. Kosten wegen Long Covid schon gar nicht.

Nur als Beispiel: In einer britischen Studie von 2024 wurde für Menschen mit Long Covid Behandlungskosten von durchschnittlich 700 britischen Pfund pro Jahr errechnet. Mehr als doppelt so viel wie für vergleichbare Personen ohne Long Covid ("Healthcare utilisation of 282,080 individuals with long COVID over two years: a multiple matched control, longitudinal cohort analysis). Und in einer im April dieses Jahres publizierten US-Studie wurde für die USA für 2022 und 2023 ein Einkommensverlust pro Jahr von insgesamt über 200 Milliarden US-Dollar durch Long Covid geschätzt ("A nationwide study of risk factors for long COVID and its economic and mental health consequences in the United States").

Wie valide diese Schätzungen sind, vermag ich nicht zu beurteilen. Sicher ist aber, dass COVID-19 ganz abgesehen von allen gesundheitlichen Aspekten und dem Verlust von Lebensqualität weiterhin enorme finanzielle Kosten verursacht. Ich denke, es sollte im Interesse der Politik und auch der Wirtschaftskammer sein, diese Kosten durch Präventionsmodelle zu senken, anstatt den nächsten Feldzug gegen angebliche Sozialschmarotzer zu starten. Das geht von Impfungen, deren Kostenwirksamkeit im Falle der Boosterimpfungen 2023 zusätzlich zur Grundimmunisierung erst unlängst publiziert wurde ("Cost-Effectiveness of 2023-2024 COVID-19 Vaccination in US Adults"), bis zu den diversen Maßnahmen für eine gesündere Luft.

Das einfachste Mittel - auch am Arbeitsplatz - wäre aber, den Krankenstand nicht in die Nähe von Schmarotzertum zu rücken. Kranke sollten zu Hause bleiben, anstatt ihre Kolleg:innen anzustecken.