Long Covid, die Blut-Hirn-Schranke und das Immunsystem
Long Covid und die erhöhte Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke sowie die Aktivierung grundlegender immunologischer Kaskaden. Außerdem: Ein Review mit dem Versuch etwas Ordnung ins Long Covid-Chaos zu bringen.
Innerhalb von wenigen Tagen sind drei große Studien zu Long Covid aus dem Bereich der Grundlagenforschung erschienen, die unser Wissen darüber, was bei Long Covid im Körper vor sich geht, erweitern. Zunächst aber zu einem Review-Artikel, der ein noch grundlegenderes Problem anspricht.
Auf dieses Problem stoßen alle, die sich für Long Covid interessieren, früher oder später: Long Covid ist eine schwer fassbare Krankheit. Die verschiedenen Symptome sind so ausufernd wie die Forschungsansätze. Das Fehlen einer klaren Definition führt dazu, dass kaum zwei Studien von exakt dem gleichen "Long Covid" ausgehen.
In einem ganz frisch im Science-Magazin erschienenen Artikel versuchen zwei der prominentesten medizinischen Wissenschaftler, Ziyad Al-Aly und Eric Topol, etwas Ordnung ins Chaos zu bringen ("Solving the puzzle of Long Covid"). In einem sehr gerafften Überblick beschreiben sie, was seit 2020 schon alles über Long Covid erforscht wurde und wie viel mehr noch vor uns liegt.
Sie präsentieren die verschiedenen Formen von Long Covid, einige Pathomechanismen, fassen den Stand des Wissens zur Risikoreduktion durch Impfungen sowie durch antiviral wirkende Medikamente zusammen und gehen auch kurz auf ein offenbar weltweites Problem ein: Trotz des inzwischen erreichten Wissens über Mechanismen, Epidemiologie und Prävention gibt es große Lücken in der Versorgung von Menschen mit Long Covid. Das geht von der Erforschung von Therapiemöglichkeiten über den Zugang zu medizinischer und sozialer Unterstützung bis zum grundlegenden Problem, dass Long Covid noch immer viel zu oft nicht ernst genommen oder als psychosomatisch verkannt wird.
Der vielleicht wichtigste Absatz des Textes findet sich aber ungefähr in der Mitte:
"Der fehlende Konsens über Fachbegriffe, Definitionen und die Endpunkte klinischer Studien für Long COVID verlangsamt den Fortschritt und behindert die Beteiligung der pharmazeutischen Industrie an klinischen Studien. Ein Konsens über diese Parameter - für Anwendungen in der klinischen Versorgung, Epidemiologie und Überwachung, klinischen Studien und Versorgungsforschung - ist dringend erforderlich."
Wir müssen uns endlich darüber einigen, was wir überhaupt meinen, wenn wir über Long Covid sprechen!
Die drei neuen Studien zu den Pathomechanismen von Long Covid
Gerade in den letzten Wochen gleich mehrere hochkarätige Studien über die Pathomechanismen von Long Covid erschienen, also darüber, was die Symptome der Betroffenen hervorruft. Drei davon schauten sich verschiedene Aspekte bei Personen mit jener Form von Long Covid an, die man vielleicht als "eigentliches Long Covid" bezeichnen kann: Jenes, dass in erster Linie durch Fatigue, kognitive Veränderungen und Belastungsintoleranz gekennzeichnet ist.
Long Covid und die Blut-Hirn-Schranke
Eine im Nature-Verlag erschienene Arbeit einer irischen Forschungsgruppe beschäftigt sich mit den Auswirkungen von COVID-19 auf die Blut-Hirn-Schranke ("Blood–brain barrier disruption and sustained systemic inflammation in individuals with long COVID-associated cognitive impairment").
Die Blut-Hirn-Schranke ist eine physiologische Barriere zum Schutz des zentralen Nervensystems, also des Gehirns und des Rückenmarks. Sie erlaubt den Transport von Nährstoffen vom Blut ins Gehirn und den Abtransport von Stoffwechselprodukten, verhindert aber weitgehend das Eindringen von Krankheitserregern und den meisten Giftstoffen. Wenn die Blut-Hirn-Schranke geschädigt und somit durchlässiger wird, kann das entsprechend schwere Auswirkungen für das Gehirn haben.
Anhand von speziellen Magnetresonanzuntersuchungen (DCE-MRI) und immunologischen Labortests wurde in dieser Studie nun erstmals gezeigt, dass Personen mit "Brain Fog" - also Long Covid-assoziierten kognitiven Einschränkungen - eine Störung der Blut-Hirn-Schranke im Rahmen einer anhaltenden systemischen Entzündungsreaktion aufweisen. Das kann schon in der akuten Phase der Erkrankung auftreten und ist bei Long Covid-Kranken mit Brain Fog auch nach einem Jahr festzustellen. Kontrollgruppen ohne Brain Fog wiesen diese Veränderungen nicht auf.
Weiters zeigten sie in Laborversuchen, dass verschiedene Immunzellen von Long Covid-Kranken sich leichter an die Endothelzellen heften können, die die Blutgefäße des Gehirns innen auskleiden, sowie dass das Serum von Patienten mit Long Covid in Zellkulturen mit gesunden Endothelzellen dazu führte, dass diese verstärkt Entzündungsmarker produzieren.
Zellen und Botenstoffe des pathologisch aktivierten Immunsystems treffen also auf eine pathologisch durchlässigere Blut-Hirn-Schranke. Keine gute Mischung.
Long Covid und das Komplementsystem
Medizinstudierende, die zu Beginn des Studiums das Lernen des Citratzyklus überlebt haben, stoßen irgendwann auf das vielleicht komplizierteste System des Körpers: das Komplementsystem. Das Immunsystem ist ja schon eine wirklich komplizierte Angelegenheit, Immunologen gelten als die Nerds unter den Medizinern. Das Komplementsystem setzt da noch was drauf. Es besteht aus vielen Buchstaben-Zahlen-Kombinationen und Pfeilen und macht irgendwas mit der körpereigenen Abwehr. Im Studium war unsere Rettung, dass auch die wenigsten Prüfer das Komplementsystem durchschauten.
Leider (für Studierende) ist das Komplementsystem aber durchaus wichtig bei der Abwehr von Erregern und spielt andererseits eine Rolle bei vielen Autoimmunerkrankungen. Da überrascht es natürlich nicht, dass sich Forschende fanden, die die Komplementfaktoren bei Long Covid anschauten. Ihre Mühen wurden mit einer Publikation im Science-Magazin belohnt ("Persistent complement dysregulation with signs of thromboinflammation in active Long Covid"). Sie fanden Veränderungen, die sie in folgender Grafik - natürlich "vereinfacht" -zusammenfassten:
Die Veränderungen waren bei Personen mit Long Covid sechs Monate nach der Infektion festzustellen, und sie waren assoziiert mit biochemischen Zeichen von Gewebsschädigung und einer Entzündung der kleinen Blutgefäße, was wiederum zum Entstehen von Mikrothromben führen kann, die bei der klassischen Form von Long Covid eine zentrale Rolle spielen dürften.
Long Covid und Interferon-γ
Interferon-γ ist ein Botenstoff des Immunsystems, das eine wichtige Rolle in der Abwehr von viralen Infektionen hat. (Es gehört zu den immunologischen Markern, die auch in der oben besprochenen Studie über die Blut-Hirn-Schranke angeschaut wurden.) Andererseits trägt es zu allen möglichen Krankheitssymptomen wie Gliederschmerzen, Fatigue oder Fieber bei. Vor wenigen Tagen erschien im Science-Verlag eine Publikation einer Arbeitsgruppe aus Cambridge zu Interferon-γ und Long Covid ("Spontaneous, persistent, T cell–dependent IFN-γ release in patients who progress to Long Covid").
Sie untersuchten Personen, die in einer Long Covid-Klinik behandelt werden und als Leitsymptom Fatigue aufwiesen. Deren Immunzellen produzierten deutlich mehr Interferon-γ als die von bisher nicht infizierte Personen (A in der folgenden Abbildung). Nach der COVID-19-Infektion stieg die Interferon-γ-Produktion deutlich an (Tag 28 und Tag 90) kehrte aber nach spätestens 180 Tagen bei Personen ohne Long Covid auf niedrige Werte zurück (Abbildung B), während sie bei Personen mit Long Covid unverändert hoch blieb (Abbildung C). Zudem zeigten sie, dass bei Personen, deren Long Covid-Symptome sich im Zeitverlauf deutlich bessern auch die Werte von Interferon-γ sinken.
Ob das Interferon-γ einfach ein Marker einer Viruspersistenz oder der Reaktivierung anderer im Körper schlummernder Viren ist oder aber die Long Covid-Symptome triggert, ist noch nicht klar. Möglicherweise trifft eh beides zu.
Fazit
Durchlässige Blut-Hirn-Schranke, verrücktspielendes Komplementsystem, Interferon-γ - was hat das alles in der Praxis zu bedeuten?
In der Grundlagenforschung über die Pathomechanismen von Long Covid tun sich immer neue Aspekte auf oder bestärken das schon vorhandene Wissen. In all seiner Komplexität lässt sich Long Covid auf eine Reihe in spezialisierten Labors messbaren pathologischen Prozessen zurückführen. Egal wie schwierig diese nicht nur für Laien, sondern auch für Klinikerinnen und Kliniker zu verstehen sind, ist einiges doch leicht nachvollziehbar:
- Long Covid ist nicht psychisch oder psychosomatisch bedingt. Es handelt sich um einen durch zahlreiche messbare Veränderungen gekennzeichnete Krankheitsgruppe, viele dieser Veränderungen betreffen die grundlegende Funktionen von Zellen und/oder Organen.
- Anfangs konzentrierte sich die Forschung auf Long Covid durch direkte Organschäden nach schweren Verläufen von COVID-19 bei hospitalisierten, oft intensivpflichtigen Personen. Diese Verläufe sind inzwischen viel seltener geworden. Dafür kommen inzwischen mehr und mehr große Studien zum eigentlichen oder klassischen Long Covid heraus. Jene Gruppe von Long Covid, die durch Fatigue, Belastungsintoleranz, Brain Fog etc. gekennzeichnet ist.
- Ich hoffe und denke, dass durch diese Fokussierung auch neue therapeutische Ansätze für Long Covid und vermutlich auch durch ME/CFS nach anderen Infektionen als COVID-19 entwickelt werden.