Masern
Die Rückkehr der Masern nach Europa und das wichtigste zur Masernimpfung.
Im vergangenen November habe ich zum ersten Mal in meinem Leben eine an den Masern erkrankte Person gesehen. Nach fast 25 Jahren Berufserfahrung. Gut, ich bin weder Kinderarzt noch Infektiologe, und die Masern sind ja selten.
Der Patient, ein Student, hatte zuhause mit Fieber, Husten und Schmerzen des ganzen Körpers mehrere Tage durchgehalten, bis die Beschwerden so stark waren, dass er es einfach nicht mehr aushielt und das Spital aufsuchte. Er machte wirklich einen sehr leidenden Eindruck, optisch war er gekennzeichnet durch einen beeindruckend dichten, schmerzhaft juckenden Ausschlag des ganzen Körpers.
Der hochgradige klinische Verdacht auf Masern wurde innerhalb weniger Stunden labordiagnostisch bestätigt. Er meinte zunächst, er wäre "sicher" geimpft, später zeigte sich aber, dass er ausgerechnet die Masernimpfung als Kind nicht bekommen hatte.
In der Nacht wurde er bei uns aufgenommen, am nächsten Vormittag wurde er in ein anderes Spital mit infektiologischer Spezialstation verlegt. Das sieht der Hygieneplan so vor, weil die Masern so ziemlich die ansteckendste Krankheit ist, die wir kennen. Sogar noch ansteckender als die Omikron-Varianten von SARS-CoV-2.
Die Rückkehr der Masern in Europa
Dass ich genau jetzt erstmals live Masern sah, ist Zufall. Oder auch nicht. Die Fälle an Masern nehmen auch bei uns in Europa wieder deutlich zu. So sehr, dass die WHO sich zu einer Alarmmeldung veranlasst sah.
In den 53 Staaten der WHO-Europa-Region (die europäischen Länder plus Israel und die geografisch in Asien liegenden Länder der ehemaligen UdSSR) gab es im Jahr 2023 42.200 Masernfälle. Zum Vergleich: 2022 waren es noch 941. Die Hauptgründe laut WHO: Nachdem es zu Beginn der COVID-19-Pandemie aufgrund des weitgehenden Stillstands im Gesundheitswesen zu einem Einbruch bei den Masernimpfungen kam, wurde die Impflücke danach nicht mehr aufgeholt. Unter anderem, weil die Impfskepsis ganz allgemein angestiegen ist.
England zum Beispiel verkündete 2017 die Eliminierung der Masern. Aktuell liegt die Impfquote bei Kindern dort aber nur mehr bei 85% (in London gar nur bei 74%) und damit deutlich unter der angestrebten Schwelle von mindestens 95%. Die Folge: Alleine im letzten Quartal 2023 gab es in England 216 Fälle von Masern. Grund genug für die UK Health Security Agency, Alarm zu schlagen.
In Österreich berichtet die AGES von 226 gemeldeten Fällen in den ersten 5 Wochen 2024. 2020 gab es dagegen nur 23 Fälle, 2021 und 2022 jeweils einen einzigen. Anfang 2023 kam es zu einem Masern-Cluster in der Steiermark, knapp ein Viertel der infizierten Kinder musste stationär behandelt werden. Aktuell könnte sich in Wien was entwickeln.
Relativ zur Bevölkerungszahl gibt es in Österreich also deutlich mehr Fälle als in England. Von Alarm habe ich aber noch nichts vernommen.
Zu Deutschland betreffen die aktuellsten Daten auf der Webseite des RKI 2022. Laut diesem Artikel waren es 2023 53 Fälle.
Aus anderen Ländern hört man bei uns kaum etwas. Eine aus Bosnien stammende Kollegin erzählte mir von einem großen Ausbruch in Tuzla mit über 30 hospitalisierten Kindern. Der Löwenanteil der neuen Fälle wird aber aus Russland und Kasachstan mit jeweils ca. 10.000 Fällen berichtet.
Auch in den USA, die mehrere Jahre lang fast keine Masernfälle verzeichnete, traten in den letzten Wochen mehrere Fälle auf. Grund genug für die CDC, eine Warnung an alle Ärztinnen und Ärzte der USA auszuschicken.
Warum man die Masern ernst nehmen muss
Der berühmte britische Autor Roald Dahl schrieb über seine Tochter Olivia, die 1962 an den Masern erkrankte:
Meine älteste Tochter bekam Masern, als sie sieben Jahre alt war. Als die Krankheit ihren üblichen Verlauf nahm, kann ich mich erinnern, dass ich ihr oft im Bett vorlas und nicht besonders beunruhigt darüber war. Dann, eines Morgens, als sie schon auf dem Weg der Besserung war, saß ich an ihrem Bett und zeigte ihr, wie man aus bunten Pfeifenreinigern kleine Tiere bastelt, und als sie an der Reihe war, selbst eines zu machen,
bemerkte ich, dass ihre Finger und ihr Verstand nicht zusammenarbeiteten und sie nichts tun konnte.
"Fühlst du dich nicht gut?" fragte ich sie.
"Ich fühle mich ganz schläfrig", sagte sie.
Nach einer Stunde war sie bewusstlos. Nach zwölf Stunden war sie tot.
Olivia starb wie so viele andere Kinder wenige Jahre vor dem Beginn des Masernimpfprogramms. Roald Dahl blieb bis zum Ende seines Lebens ein kompromissloser Verfechter der Impfungen.
Während die Masern oft das Image einer harmlosen Kinderkrankheit haben, handelte es sich lange Zeit im die Infektionskrankheit, die nach den Pocken am meisten Kinder umbrachte. Bis in die 70er Jahre starben weltweit jährlich rund 2.500.000 Kinder daran. In erster Linie durch die weltweiten Impfprogramme sank die Zahl auf zuletzt unter 100.000 Todesfälle pro Jahr. Doch noch immer sind die Masern damit die durch Impfung verhinderbare Imfektionskrankheit mit den meisten Todesopfern. In den reicheren Ländern sterben 0,1-0,3% der Erkrankten, in armen Ländern sind es viel mehr - in Ländern mit vielen unterernährten Menschen bis zu einem Viertel.
Die Masern sind unter anderem deshalb so gefährlich, weil sie fast jedes Organ im Körper schädigen können. Eine Lungenentzündung ist der häufigste unmittelbare Grund für einen tödlichen Verlauf.
Weitere 0,1% erkranken an einer akuten Enzephalitis, also einer Entzündung des Gehirns. Diese verläuft - so wie bei Roald Dahls Tochter Olivia - in 10-20% der Fälle tödlich. Von den Überlebenden hat ein Viertel chronische Schädigungen des Gehirns. Weitere 0,1% erkranken wenige Wochen nach der Infektion an der akuten post-infektiösen Masernenzephalitis (APME), an der ebenfalls rund 10% der Betroffenen versterben.
Auch die Augen und die Mittelohren können betroffen sind, die Folgen reichen bis zum Verlust des Seh- bzw. Hörvermögens. In den sogenannten Entwicklungsländern sind die Masern die häufigste Ursache für Blindheit bei Kindern.
Darüber hinaus befallen die Masern die Lymphzyten des Immunsystems und können diese zerstören, was eine monate- bis jahrelang anhaltende erhöhte Anfälligkeit für andere Infektionen zur Folge hat. Die Mehrzahl der Todesfälle sind auf unmittelbar nach der akuten Infektion auftretende sekundäre Infektionen mit anderen Erregern zurückzuführen.
Als besonders furchtbare Spätkomplikation kann bei rund 0,1% der Fälle eine subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) auftreten. Von den vor dem ersten Lebensjahr infizierten Kindern erkrankt eines von 600 später an SSPE. Dabei kommt es mehrere Jahre nach der Infektion bei zuvor sich normal entwickelnden Jugendlichen zu einem progressiven neurologischen Abbau mit einem - man kann es nicht anders bezeichnen - Monate bis wenige Jahre langen Dahinsiechen, gekennzeichnet durch einen Stück für Stück passierenden Verlust der Sprache und des Gedächtnisses, Muskelkrämpfen, Lähmungen, schließlich Tod, weil man durch die Zerstörung des Nervensystems einfach zu atmen aufhört. Das ist der Verlauf bei praktisch 100% aller von SSPE Betroffenen.
Die Impfung
Der enorme Unterschied, den die Entwicklung des Masernimpfstoffes ausmachte, ist tausendfach bestätigt.
Die Masernimpfung verhindert zu 97% eine Infektion, beim restlichen 3% ist der Verlauf milder und die Komplikationsrate verringert. Außerdem dürften die wenigen Personen mit einer Durchbruchsinfektion selber kaum ansteckend sein, wie z.B. eine Studie zu einem Masernausbruch 2011 in New York zeigte. Damit ist sie so ziemlich die wirkungsvollste aller Impfungen.
Darüber hinaus ist die Impfstoffwirkung sehr lange anhaltend, der Antikörpertiter fällt auch ohne gewollte (Boosterimpfung) oder ungewollte (Kontakt mit Infizierten) Auffrischung sehr langsam ab, und die Masernviren verändern sich kaum. Die jetzigen Viren sind genetisch praktisch ident mit denen der 1960er Jahren. Mit ihrer ausgezeichneten und langanhaltenden Wirkung und dem geringen Nebenwirkungsprofil gehört die Masernimpfung zu den spektakulärsten Erfolgen der Medizin. Und das bei einer der weltweit schlimmsten Infektionskrankheiten, die wir kennen.
Trotzdem war die Masern-Mumps-Röteln-Impfung (MMR) schon sehr früh das Ziel der Anti-Vaxxer. Durch eine gefälschte Studie zu MMR und Autismus wurde Andrew Wakefield, inzwischen längst mit Berufsverbot belegter englischer Mediziner, zu so was wie dem Vater der modernen Impfgegner. Obwohl seine Arbeit wissenschaftlich völlig diskreditiert ist, hat Wakefield weiterhin großen Einfluss auf viele Menschen und blühte mit der COVID-19-Pandemie richtiggehend auf - mit Einfluss auf Leute wie die US-Präsidentschaftskandidaten Trump und v.a. Robert Kennedy Jr. Die Masernimpfung bleibt - nach der COVID-Impfung - das erste Ziel der Impfgegner. Kaum erschienen die ersten Berichte über Masernausbrüche, waren sie wieder unterwegs, die Gefahr der Masern runterzuspielen.
Wie das Risiko einer Maserninfektion im Vergleich zur Impfung tatsächlich ausschaut, wird in einem Artikel im New England Journal Of Medicine so zusammengefasst:
Optisch eindrücklicher ist diese Grafik aus einem Artikel der NYTimes:
Das Impfprogramm
Die MMR-Impfung ist Teil des kostenlosen Impfprogramms. Die Impfempfehlungen laut NIG in Österreich und STIKO in Deutschland sind im Falle dieser Impfung praktisch ident.
Die Impfung wird allen Kindern ab einem Alter von 9 Monaten empfohlen, besonders dringend aber vor dem Eintritt in eine Kinderkrippe bzw. in einen Kindergarten. Nach zwei Impfungen im Abstand von 4 Wochen gilt man als geschützt.
Auch ältere Kinder / Jugendliche sowie Erwachsene ohne Impfung oder auch mit unklarem Impfstatus können eine Gratisimpfung erhalten. (In Deutschland ab Jahrgang 1970, da man davon ausgeht, dass alle früher - also vor Einführung der Impfung - geborenen die Infektion bereits hatten. In Österreich gibt es diese Altersgrenze nicht.)
Im Zweifel ist auch eine Titerbestimmung möglich, die rund €20 kostet. Eine einmalige Blutabnahme klärt, ob man geimpft ist (oder die Infektion hatte). Die Titerbestimmung kann man sich auch machen lassen, wenn man doch Zweifel hat, ob der Impfschutz nach Jahrzehnten noch vorhanden ist, also bei denen, die wie ich zu den Kindern der 70er Jahre gehören. Noch wird das aber nicht empfohlen. Ob dann irgendwann 60 oder 70 Jahre nach der Grundimmunisierung doch eine Boosterimpfung nötig sein wird, wird sich weisen.
Wichtig: Die MMR-Impfung ist eine Lebendimpfung. Das bedeutet, dass sie für immunsupprimierte Personen und (insbesondere aufgrund des Rötelnanteils) auch für Schwangere kontraindiziert ist.
Aus all dem ergibt sich, dass Kinder unter 9 Monaten, die noch nicht geimpft werden können, besonders gefährdet sind. Die in der Schwangerschaft mitbekommenen mütterlichen Antikörper sind nach 6 Monaten meist kaum mehr vorhanden. Die Babys sind also ab dieser Zeit bis zu Impfung kaum mehr geschützt und auf die Herdenimmunität durch die Impfung der etwas älteren Kinder angewiesen. Zur Erinnerung: Bei den Kleinsten treten die gefürchteten Masernkomplikationen besonders häufig auf.
Genauso sind ungeimpfte Immunsupprimierte und Menschen mit bestimmten Erkrankungen des Immunsystems auf die Impfung der anderen Mitmenschen angewiesen. Die Impfung ist hier auch ein Akt der Solidarität.
Eine - wie immer - exzellente Erklärung zur Impfung findet sich im Impfplan Österreich (pdf) des Nationalen Impfgremiums.
Fazit
Egal, was manche - besonders aus dem Kreis der Impfgegner - behaupten, sind die Masern eine der schlimmsten Infektionskrankheiten, die wir kennen. Sie ist von allen durch eine Impfung verhinderbare Krankheiten diejenige, die jährlich am meisten Todesopfer fordert. Und das obwohl die Masernimpfung einen fast 100%igen und lange anhaltenden Schutz bei nur extrem selten auftretenden Nebenwirkungen bietet.
Alle Kinder ab dem Alter von 9 Monaten sowie alle älteren Personen mit fehlendem oder unklarem Impfstatus sollten sich die Impfung geben lassen.
Einen Lesetipp habe ich noch. Edward Nirenberg räumt in einem unlängst drüben bei Substack erschienen Blogartikel mit den wichtigsten Mythen zu den Masern und der Impfung auf. Viel detaillierter und wissenschaftlicher als ich es könnte: