Über leichte und schwere Fälle der Vogelgrippe H5N1
Das NEJM publiziert den Fallbericht des kritisch an der Vogelgrippe erkrankten Teenagers und zwei andere Artikel zu H5N1.
- Das New England Jornal of Medicine bringt gleich drei Artikel zu H5N1.
- In einem medizinischen Fallbericht erfahren wir mehr über die Erkrankung eines 13jährigen Mädchens in Kanada. Es ging ihr noch viel schlechter als bisher bekannt.
- Die bei dem Mädchen gefundenen Virusmutationen zeigen eine Adaptierung an menschliche Zellen.
- Im Kontrast dazu steht eine Artikel der die milden Symptome bei fast allen bisherigen Kranken in den USA.
- Wie knapp vor einer Pandemie wir stehen, wissen wir nicht.
Neue Entwicklungen bei der Vogelgrippe
Es schaut so aus, als ob uns die Vogelgrippe H5N1 noch etwas länger beschäftigen wird. In den USA konnte sich das Virus Viehbetrieben monatelang fast ungehindert ausbreiten. Bereits im Frühling geschah etwas Überraschendes und Beunruhigendes: Das Virus sprang auf Milchkühe über, was uns schon ahnen ließ, dass da was im Busch ist.
Dann vergingen Monate, in denen wir mit immer neue Meldungen über weitere betroffene Farmen in mehreren US-Bundesstaaten erhielten, ohne dass merkbare Anstalten einer Eindämmung gemacht wurden. Man stelle sich vor, was im Westen los wäre, wenn China oder ein afrikanisches Land so vorgehen würde.
Wenn man einem sehr mutationsfreudigen Virus wie dem Influenzavirus genug Gelegenheiten gibt, werden sich fast unweigerlich Veränderungen ergeben, die eine höhere Pathogenität auch für Menschen zur Folge haben. Und tatsächlich wurden bereits Mutationen gefunden, die darauf hindeuten. All das bringt auch bedächtige Personen wie den in diesem Blog schon oft zitierten Infektionsepidemiologen Michael Osterholm dazu, unruhig zu werden. Er sieht die Uhr ticken.
Nachdem bereits fast 1000 Milchfarmen in den USA betroffen waren - in Kalifornien, dem größten Milchproduzenten der US-Staaten sind es fast 700 und somit über 2/3 des Bundesstaates - entschloss sich Governeur Newson am 18.12.24, den Alarmzustand in Kalifornien auszurufen. Und am 30.12.24 kündigte die für Lebensmittelsicherheit zuständige FDA an, dass sie ein Überwachungsprogramm für Rohmilchprodukte in die Wege leiten werde.
Das New England Journal of Medicine berichtet
Dass sich da was zusammenbraut, lässt sich auch daran erkennen, dass das altehrwürdige New England Journal of Medicine, die wohl prestigeträchtigste medizinische Fachzeitschrift der Welt, in seiner Ausgabe vom 31.12.2024 gleich drei Artikel dem H5N1-Virus widmete. Einen Fallbericht zu dem kritisch an der Vogelgrippe erkrankten Teenager in British Columbia, Kanada, eine allgemeine klinische Zusammenfassung zu den derzeitigen Fällen von H5N1-Infektionen bei Menschen und ein begleitendes Editorial.
Der Fall des kritisch erkrankten Teenagers in Kanada
Die Nachrichten von einem Teenager, der - vermutlich durch Kontakt mit infizierten Wildvögeln - so schwer an der Vogelgrippe erkrankte, dass eine intensivmedizinische Behandlung mit Intubation und invasiver Beatmung notwendig war, ging durch die weltweiten Nachrichten.
Nun wurde eben im NEJM ein Fallbericht dazu publiziert, der zeigt: Es war noch dramatischer als bisher bekannt.
Wir wissen jetzt, dass es sich um ein 13-jähriges Mädchen handelt. Sie hat als Vorerkrankung mildes Asthma, weiters einen BMI von 35. Ja, das bedeutet sie ist übergewichtig, was in manchen einschlägigen "sozialen" Medien natürlich sofort ausgeschlachtet wurde, weil "vorerkrankt und zu dick" (keine Links dazu).
Das Mädchen wurde am 4.11.24 wegen einer Bindehautentzündung und Fieber in eine Notfallambulanz gebracht, ein grippaler Infekt wurde diagnostiziert, sie durfte am selben Tag ohne spezifische Therapie nachhause gehen. Drei Tage später wurde sie allerdings erneut eingewiesen. Jetzt war sie in einem ganz anderen Zustand als drei Tage zuvor. Sie hatte Husten, Erbrechen und Durchfall. Die Sauerstoffsättigung und der Blutdruck waren im Keller. Sie wurde aufgenommen und am nächsten Tag bei inzwischen nachgewiesener Influenza A wegen beginnendem Lungenversagen auf eine Kinderintensivstation transferiert.
Am 9.11. musste sie intubiert und an die ECMO genommen werden - ein intensivmedizinisches Verfahren, mit dem bei Lungenversagen dem Blut Sauerstoff zugeführt und das Kohlendioxid entnommen wird. Eine ECMO wird nur bei besonders schweren Fällen des Lungenversagens zur Überbrückung angewendet wird. Aber nicht nur das. Sie entwickelte auch ein akutes Nierenversagen und benötigte Dialysen. Und schließlich wurde ein Plasmaaustausch durchgeführt, mit dem versucht wurde, den Cytokinsturm des außer Kontrolle geratenen Immunsystems auszugleichen.
Inzwischen erfolgte auch der laborchemische Nachweis, dass es sich um eine Infektion mit H5N1 handelte. Auffallend war dabei, dass in den tiefen Atemwegen (Trachealabstrich aus der Luftröhre) deutlich höhere Virusmengen gefunden wurden als in den oberen Atemwegen (Nase/Rachen). (Zur Erinnerung: Je höher der Cycle Treshold = Ct-Wert in der PCR ist, desto weniger Viren sind vorhanden. Weiters dauerte es erstaunlich lange, bis die Viren aus den tiefen Atemwegen verschwanden - trotz einer Dreifachkombi an antiviralen Medikamenten.
Am 22.11. - also nach 13 Tagen - konnte die ECMO beendet werden, am 28.11. wurde das Mädchen extubiert. Am 9.12. konnte die Dialysetherapie beendet werden und seit dem 18.12. - eineinhalb Monate nach dem Krankheitsbeginn benötigt sie keine Sauerstoffgabe mehr. Über den weiteren Verlauf und wie es ihr jetzt geht, erfahren wir aus dem Artikel nichts. Abgesehen davon, dass sie gemeinsam mit ihren Eltern das Einverständnis für die Publikation des Artikels geben konnte.
In der virologischen Aufarbeitung zeigte sich, dass es sich tatsächlich um ein Virus der Klade 2.3.4.4b handelt, also der seit 2020 vorherrschenden Klade, die die derzeitigen weltweiten Ausbrüche bei Vögeln und auch u.a. den Milchkühen hervorrief. Der Genotyp ist D1.1, der bei den Wildvögeln und auch Zuchtvögeln gefunden wird, nicht aber bei den Milchkühen.
Die weitere Sequenzierung ergab die Mutationen E627K im Polymerase-Basis-2-Gen, sowie E186D und Q222H im H5-Hämagglutinin-Gen. Letztere sind mit einer besseren Bindung an Zellen des Atemtrakts von Menschen assoziiert. Alle Mutationen wurden nur bei einem Teil der sequenzierten Viren gefunden. Dies könnte ein Hinweis darauf sein (aber kein Beweis!), dass sich die Mutationen erst im bereits infizierten Mädchen entwickelten und noch nicht in der Natur vorkommen.
Noch eine wichtige Info: Weder in der Familie und im Freundeskreis des Mädchens noch beim medizinischen Personal kam es zu einer Ansteckung mit dem Virus.
Überblick über 46 milde Fälle
Was mit dem Mädchen passierte, steht in einem starken Kontrast zum Bericht über 46 Personen, die sich in den USA mit der Vogelgrippe ansteckten und über die in einem weiteren Artikel des NEJM berichtet wurde:
Von den 46 Personen hatten 25 Kontakt mit infizierten Milchkühen gehabt, 20 zu infizierten Zuchtvögeln, bei einer Person wurde kein Kontakt zu infizierten Tieren oder Menschen erhoben. Auffallend war, dass fast alle (93%) eine Bindehautentzündung der Augen hatten, Fieber (49%) und Symptome der Atemwege wie Husten oder Halsschmerzen (insgesamt 36%) waren relativ selten im Vergleich zur normalen Influenza. Stationär aufgenommen werden musste aufgrund der Erkrankung kein einziger der Betroffenen.
Auch wenn die Bindehautentzündungen als milde Erkrankungen klassifiziert werden und bisher keine bleibenden Beeinträchtigungen der Sehkraft beschrieben wurden, sind sie bei H5N1-Infektionen doch oft ziemlich heftig, wie man diesem Foto aus einem früheren Fallbericht im NEJM entnehmen kann:
In der virologischen Diagnostik waren - passend zu den klinischen Symptomen - Abstriche der Bindehäute bei fast allen positiv auf H5N1, Nasen/Rachen-Abstrich nur bei 1/3 bis 2/3. Bei 26 Proben gelang eine Virussequenzierung. 22 ergaben den Genotyp B3.13, der Milchkühen und auf Geflügelfarmen gefunden wurde, die restlichen 4 hatten - wie das schwer erkrankte Mädchen in Kanada - den v.a. bei Vögeln verbreiteten Genotyp D1.1.
In der epidemiologischen Aufarbeitung konnte wie bei dem kanadischen Mädchen keine Übertragung auf andere Personen gefunden werden.
Wie nahe vor einer Pandemie stehen wir also?
Bei dieser Frage ist sich auch die Fachwelt nicht einig. Wir kennen das schon von den Prognosen bei COVID-19.
Manche behaupten, dass wir nur mehr eine Mutation von einer Pandemie entfernt wären und begründen dies mit virologischen Laborstudien. Andere weisen darauf hin, dass Laborstudien oft nur simplifiziert einen Aspekt anschauen. Tatsächlich brauche es gleich mehrere Schritte, bis das Virus zu wirklich pandemisches Potenzial bekäme. Wieder andere vermuten / hoffen, dass H5N1 eine inhärente Eigenschaft habe, die eine Ausbreitung auf Menschen verhindere. Sonst wäre es in den 25 Jahren seit der erstmaligen Sequenzierung längst zur Pandemie gekommen. Aber auch sie weisen darauf hin, dass im Falle eines Rearrangements alles anders kommen könnte. Wenn also eine Person oder ein Tier (Schweine sind da häufige Kandidaten) gleichzeitig mit H5N1 und einem anderen Influenzavirus infiziert ist und H5N1 so neue Eigenschaften übertragen bekommt.
Wie viele Schritte vor einer Pandemie wir also tatsächlich stehen, ist derzeit also genauso Spekulation wie die Frage, warum die meisten Infizierten nur leicht erkranken, während es bei früheren Ansteckungen bis ca. 2015 fast die Hälfte der Infizierten starb.
Einig sind sich die meisten, dass es derzeit zwar noch keine 100%igen Anzeichen daür gibt, dass wir unmittelbar vor einer Pandemie stehen, dass es aber das denkbar blödeste ist, dem Virus durch eine wenig kontrollierte Ausbreitung in Tieren - insbesondere in der Massentierhaltung - unendlich viele Möglichkeiten für neue Mutationen zu bieten. Denn die können Konsequenzen haben.
So hat inzwischen auch die USA einen ersten schweren Fall von Vogelgrippe. Mitte Dezember meldeten die CDC, dass eine erwachsene Person in Louisiana in einem kritischen Zustand ist, ebenfalls wegen eines Virus des D1.1 Genotyps ("CDC confirms first severe H5N1 case in US patient"). Vor wenigen Tagen folgte das Ergebnis der Sequenzierung: Wie bei dem kanadischen Mädchen wurden Mutationen gefunden, die eine bessere Bindung an menschliche Zellen des Atemtraktes ermöglichen ("Genetic Sequences of Highly Pathogenic Avian Influenza A(H5N1) Viruses Identified in a Person in Louisiana"). Eine der Mutationen (E186D) ist exakt dieselbe wie in Kanada. Die Virusevolution findet eben ihre Wege. Wenn es sein muss, auch mehrmals.
One Health
In einem Editorial des NEJM fordern Michael G. Ison und Jeanne Marrazzo umfassende Maßnahmen zur Verhinderung oder zumindest der Eindämmung einer Pandemie.
Neben einer multidisziplinären Zusammenarbeit von Personen aus verschiedenen human- und veternätmedizinischen Fachgebieten, Weiterentwicklung und Aufstockung von Impfstoffen und antiviarlen Medikamenten sowie auch der Information der Bevölkerung (Vorsicht bei kranken oder toten Vögeln und anderen Tieren!) bringen sie auch den One Health-Ansatz ins Spiel. Wenn wir Menschen isoliert betrachten, werden wir immer ein paar Schritte zu langsam sein.
Gesunde Menschen bedingen eine gesunde Umwelt und gesunde Tiere. Mehr dazu auf der Webseite der WHO. Das passt halt nicht gut zur industriellen Massentierhaltung.