Übersterblichkeit wegen COVID-Impfungen? Wirklich?
Miserable Wissenschaft führt zur falschen Behauptung, die Impfungen wären Schuld an der Übersterblichkeit in der Pandemie.
Die wichtigsten Punkte auf einen Blick
- Manchen Medien und zahlreiche Accounts in sozialen Medien berichten von einer neuen Studie, die angeblich zeige, dass die Impfungen und auch nicht-pharmakologische COVID-Maßnahmen zur Übersterblichkeit geführt hätten.
- Die betreffende Studie ist allerdings nicht viel mehr als ein Copy&Paste-Werk mit einer nicht haltbaren Schlussfolgerung.
Wie gut die Impfungen gegen COVID-19 schützen, ist in unzähligen Studien nachgewiesen worden. In placebo-kontrollierten Zulassungsstudien, in Beobachtungsstudien bei verschiedensten Personengruppen (Ältere, Kinder, Krebskranke, Immunsupprimierte, Europäer, Asiaten und natürlich bei den US-Veteranen), in Kalkulationen aus Gesundheitsdatenbanken ganzer Länder. Eine Forschungsgruppe des WHO-Regionalbüros für Europa errechnete, dass durch die Impfungen alleine in dieser Region (die europäischen Länder, die asiatischen Staaten der ehemalige UdSSR und Israel) 1,4 Millionen Leben gerettet wurden.
Selbst im Spital, wo wir immer nur einen winzigen Teil des Gesamten sehen können, war der Effekt der Impfungen zu bemerken. Ab Herbst 2021, also in der Delta-Welle, hatten wir fast ausschließlich ungeimpfte COVID-Kranke auf unserer Intensivstation, und auch auf der COVID-Normalstation machten sie die überwiegende Mehrzahl aus.
Trotz der hundert- ... ach was ... tausendfach bestätigten Evidenz kommt es trotzdem noch immer vor, dass Publikationen erscheinen, die das Gegenteil behaupten, was von Impfgegnern gefeiert wird. Jüngst in einer bedrückenderweise in einem Subjournal des altehrwürdigen British Medical Journal erschienenen Studie.
Ja, die niederländischen Autor*innen, drei Kinderonkologen und ein als independent researcher bezeichneter Mistery Man, haben wirklich die vor allem in der Hochphase der Pandemie so beliebte Datensammlung Our World in Data in den Titel ihrer Studie gegeben.
Tatsächlich weist die Studie dermaßen viele Probleme auf, dass sich der Epidemiologe Gideon Meyerowitz-Katz, der einem breiteren Publikum unter dem Namen Health Nerd durch seine kritischen Betrachtungen zu verschiedensten Studien bekannt ist, zu einem Artikel über furchtbare Wissenschaft veranlasst sah:
Werfen wir also einen Blick auf die Studie, die den Impfgegnern so gut gefällt.
Die Studie
Die wissenschaftliche Leistung der Autor*innen war eine ziemlich simple. Sie luden die Übersterblichkeitsdaten der Jahre 2020 bis 2022 von 47 Staaten herunter. Allerdings nicht wie im Titel angegeben von Our World in Data (OWID), sondern von der Datenbank, die OWID selbst als Quelle benutzt. Nur eine von vielen Merkwürdigkeiten der Studie. Ihre Datenquelle ist das World Mortality Dataset, das Ariel Karlinsky von der Hebrew University in Jerusalem und Dmitry Kobak von der Uni Tübingen mehr oder weniger in ihrer Freizeit betreiben.
Wie die Autoren bestimmt schon vor dem Schreiben des Papers wussten, war die Übersterblichkeit 2021 am höchsten. Höher als 2020, als es noch keine Impfungen gab, und höher als 2022, als die meisten Maßnahmen zur Eindämmung der Virentransmission nur mehr rudimentär oder gar nicht mehr bestanden.
Die messerscharfe Schlussfolgerung der Autoren: Der Anstieg der Übersterblichkeit von 2020 zu 2021 sei ein Hinweis darauf, dass die Impfungen mehr Schaden als Nutzen gebracht hätten. Der Abfall der Übersterblichkeit von 2021 zu 2022 sei ein Hinweis darauf, dass die Eindämmungsmaßnahmen mehr Schaden als Nutzen gebracht hätten. Das versuchen sie durch vage Andeutungen wie Myokarditis nach Impfungen und die angebliche Harmlosigkeit von COVID-19 zu untermauern. Abschließend schreiben sie:
Die Übersterblichkeit ist in der westlichen Welt in drei aufeinander folgenden Jahren hoch geblieben, trotz der Umsetzung von COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen und COVID-19-Impfstoffen. Dies ist beispiellos und gibt Anlass zu ernster Besorgnis.
Was die Autoren nicht erwähnen
Die Studie ist nicht nur wegen der Methodik miserabel. Daten anderer mittels Copy&Paste zusammenzutragen, ohne eigenständige Analysen hinzuzufügen, ist für einen Thread in sozialen Medien oder für einem Blogartikel ok (so hoffe ich im Eigeninteresse... ähem...), sollte es aber niemals in ein ernsthaftes wissenschaftliches Journal schaffen.
Viel schlimmer sind aber die hanebüchenen Schlussfolgerungen und was sie - wohl absichtlich - ausgelassen haben. Wie um alles in der Welt kann man eine Arbeit zu Übersterblichkeit schreiben, ohne die nachgewiesenen COVID-19-Todesfälle anzuschauen?
Ein Twitter-User ohne medizinischen oder wissenschaftlichen Background hat genau das gemacht. Er hat - so wie die Autoren des Papers - ein paar Daten aus OWID gesammelt. Allerdings eben die bestätigten COVID-Todesfälle. Die hat er grafisch im Zeitverlauf aufbereitet und über die Grafik aus dem Paper gelegt. Fällt euch was auf, was den Autoren nicht aufgefallen ist? Könnte es einen Zusammenhang zwischen COVID-Toten und der Übersterblichkeit geben?
Diese Arbeit hätten sich die Autoren eh nicht machen müssen. Sie hätten auch einfach bei ihrer eigenen Datenquelle, dem World Mortality Dataset, ein wenig nach unten scrollen müssen und eine Grafik gefunden, die zeigt, wie gut in folgenden 16 Ländern die Übersterblichkeit mit der Zahl der COVID-19-Toten zusammenpasst:
Ja, die Datenquellen, die die Autoren selbst für ihr Paper verwenden, zeigen explizit die Korrelation von Übersterblichkeit und der Zahl der COVID-Toten. Nicht versteckt, sondern grafisch aufbereitet für jeden sichtbar.
Und wie ist das mit der Impfung? Die Autoren wollen uns weis machen, die größere Übersterblichkeit 2021 könnte eine Folge der Impfungen sein. Dabei erwähnen sie natürlich nicht, dass die Zahl der COVID-19-Infektionen und auch der nachgewiesenen COVID-19-Todesfälle 2021 deutlich größer war als 2020. Vor allem aber ignorieren sie die Tonnen an Studien zur Wirksamkeit der Impfungen und die geringe Zahl an bestätigten Impftodesfällen (und ja: es gibt sie) nach inzwischen 15 Milliarden verabreichten Impfdosen. Und das bei einer Impfung, die genauer als alle Impfungen zuvor beobachtet wurde.
Und wie erklären sie sich, dass die in ihrer eigenen Studie in den Supplements angeführten Daten der einzelnen Länder durchwegs eine hohe Übersterblichkeit in den Ländern mit niedriger Impfrate und einen niedrigere Übersterblichkeit in den Ländern mit hoher Impfrate zeigen? Auf Twitter machte sich Stuart McDonald die Mühe, zwei Tabellen zusammenzustellen. Viel Aufwand war das nicht.
Andere, wirklich große Studien zur weltweiten Entwicklung der Lebenserwartung zeigen, dass der Einbruch in jenen Ländern am eklatantesten war, die kaum Zugang zu Impfstoffen hatten und haben. In Afrika, Teilen Asiens und den ärmeren Ländern Lateinamerikas:
Eine besonders schöne Grafik habe ich noch. Neuseeland blieb aufgrund der strikten Abschottung bis ins Jahr 2022 praktisch frei von COVID-19-Erkrankungen. Erst als ein Großteil der Bevölkerung geimpft war, wurden die strikten Maßnahmen gelockert. 2020 und 2021 blieb die Sterblichkeit unter dem erwarteten Wert - trotz Impfung von über 80% der Bevölkerung. Erst als das Virus im Frühling 2022 in das Land gelassen wurde, ging die Übersterblichkeit in die Höhe (auf einen Wert, der nur einem Bruchteil der Übersterblichkeit bei uns in Europa entsprach). Negative Übersterblichkeit, als geimpft wurde, Übersterblichkeit als die Maßnahmen endeten und das Virus ins Land kam.
Nach der Publikation
Die Autoren kündigten in der Publikation selbst an, dass sie ein über das Übliche hinausgehendes Sendungsbewusstsein haben, und dass sie sehr überzeugt von ihrer Arbeit sind:
Wir werden die Ergebnisse durch eine Pressemitteilung nach der Veröffentlichung verbreiten und Kontakt zu Regierungsvertretern und politischen Entscheidungsträgern aufnehmen, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die Ursachen der anhaltenden Übersterblichkeit untersucht werden müssen.
Tatsächlich berichteten mehrere Medien über den Artikel. Und auf Twitter sorgte sie dem Vernehmen nach erwartungsgemäß für beträchtliche Aufmerksamkeit.
Weniger gut kam der Artikel bei der wissenschaftlichen Community an. Ariel Karlinsky, dessen Daten aus dem World Mortality Dataset das Hauptstück des Papers ausmachen, war definitiv nicht erfreut:
Inzwischen hat sich das Prinses Máxima Centrum für Kinderonkologie, in dem die Autoren mit Ausnahme des Mistery Mans arbeiten, von der Arbeit distanziert und angekündigt die wissenschaftliche Integrität zu untersuchen. Das British Medical Journal unternimmt ähnliche Schritte und hat die Publikation vorerst mit einer Expression of concern versehen. Beide weisen darauf hin, dass die Autoren des Artikels nicht behaupten würden, dass die Impfungen zur Übersterblichkeit geführt hätten. Das ist nur richtig, wenn man des zwischen des Zeilen Lesens nicht mächtig ist.
Die Frage, wie es so ein Artikel in ein angesehenes Journal schaffen kann, bleibt uns das BMJ schuldig.