Altes und Neues zu Long Covid
Neue Studien zur Risikoreduktion durch Impfungen, den Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen, auf die Muskeln und das Immunsystem.
Eine Vorbemerkung zur Definition von Long Covid
Jedes Mal, wenn es um Long Covid geht, sollte man bedenken, dass es sich um einen Überbegriff für verschiedene Krankheiten oder Symptomenkomplexe handelt, die nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 auftreten können. Eine mögliche Unterteilung ist die folgende:
- Die nach einem oft milden Verlauf von COVID-19 auftretenden Symptome, die in die Richtung des Chronic Fatigue Syndroms gehen oder sogar dem Vollbild von ME/CFS entsprechen.
- Anhaltende Symptome durch die Gewebsschädigung, meist nach einem meist schweren Verlauf von COVID-19.
- Die Verschlechterung einer vorbestehenden Krankheit oder das neue Auftreten einer Folgekrankheit.
Viele Artikel und Studien vermischen die unterschiedlichen Formen von Long Covid. Umso wichtiger ist es, immer genau zu schauen, worum es in einem bestimmten Artikel wirklich geht.
Impfungen reduzieren das Risiko einer Erkrankung an Long Covid deutlich
Über die Risikoreduktion durch Impfungen habe ich in diesem Blog schon öfters geschrieben, zuletzt hier vor wenigen Wochen:
Im Scientific American erschien nun Anfang Jänner 2024 ein Artikel, der einen kurzen Überblick über die inzwischen gut gefestigte Evidenz bietet, wie gut die Impfungen das Risiko reduzieren.
(Link ohne Registrierung über die Wayback Machine hier.)
Naheliegenderweise reduzieren Impfungen die zweite der oben angeführten Kategorien von Long Covid. Sie sind besonders effektiv dabei, schwere Verläufe von COVID-19 zu verhindern, womit es logischerweise auch weniger Folgeerkrankungen schwerer Verläufe gibt. Die frühen Studien zur Wirksamkeit von Impfungen gegen Long Covid wurden v.a. bei hospitalisierten Patienten mit schwerem Verlauf durchgeführt und ließen sich nicht einfach auf die große Zahl der Personen mit leichteren (= nicht spitalsbedürftigen) Verläufen umlegen.
Aber inzwischen mehren sich auch die Studien, die eine Risikoreduktion auch nach leichten Verläufen zeigen - also der ersten Kategorie in der obigen Einteilung. Wie die Impfungen das schaffen, ist noch nicht eindeutig erforscht. Im Artikel kommt Akiko Iwasaki, eine der profiliertesten Immunologinnen beim Forschungsschwerpunkt Long Covid und ME/CFS, zu Wort. Ihre These:
"Je mehr man die Replikation und Ausbreitung des Virus im Körper verhindern kann, desto geringer ist die Chance, dass das Virus eine Nische findet, um Reservoirs zu bilden oder übermäßige Entzündungen zu verursachen, die zu Autoimmunität führen."
Eine ganz aktuelle Studie zu diesem Thema ist noch nicht in dem Artikel berücksichtigt, da sie erst vor wenigen Tagen im Lancet erschien ("The effectiveness of COVID-19 vaccines to prevent long COVID symptoms: staggered cohort study of data from the UK, Spain, and Estonia"). In den meisten bisherigen Studien wurde bei an COVID-19 erkrankten Personen geschaut, wie oft sie je nach Impfstatus Long Covid entwickeln. Personen, die gar nicht an COVID-19 erkrankt waren - zB. wegen der Impfung - wurden also nicht berücksichtigt.
In der obigen Studie wurde der umgekehrte Weg gewählt. Anhand von 4 großen medizinischen Datenbanken (England, Schottland & Wales, Katalonien, Estland) wurde erhoben, wie oft Long Covid-Symptome bei geimpften im Vergleich zu ungeimpften Personen auftraten. Es wurden also auch diejenigen in der Statistik berücksichtigt, die im Beobachtungszeitraum gar nicht an COVID-19 und somit logischerweise auch nicht an Long Covid erkrankten. Ein kleiner, aber wichtiger Unterschied zu den bisherigen Studien. Wie auch immer: Die geimpften Personen hatten ein rund 40% geringeres Risiko einer Erkrankung an Long Covid.
Die jeweilige Schweregrad von COVID-19 wurde hier nicht erhoben. Aber die Personen wurden in Kohorten unterteilt je nach Risiko für einen schweren Verlauf. In der Kohorte 4 (Alter 18 bis 50 ohne sonstige Risikofaktoren), also den jungen gesunden, bei denen man einen überwiegend milden Verlauf erwarten kann, war das Risiko um 20-40% reduziert.
Diese Arbeit reiht sich somit in eine lange Liste von Studien ein. Bei allen Unterschieden was die Definition von Long Covid und was die inkludierten Personengruppen betrifft, haben sie eines gemeinsam: ALLE zeigen, dass Impfungen zu einem deutlich geringeren Risiko führen, an Long Covid zu erkranken.
Die Auswirkungen von Long Covid auf das Leben der Betroffenen
Anfang Dezember 2023 erschienen die Ergebnisse einer kanadischen Erhebung der Erfahrungen von Menschen mit Long Covid. Dabei beantworteten 25.000 repräsentativ ausgewählte, erwachsene Kanadier einen Fragebogen der staatlichen Gesundheitsbehörden. Die Ergebnisse wurden nun präsentiert.
Die Ergebnisse kommen einer Zusammenfassung des aus einzelnen Erhebungen schon bekannten gleich.
- Von denen, die angaben, zumindest einmal COVID-19 gehabt zu haben, berichteten 19% über zumindest für 3 Monate anhaltende Symptome. Das waren 11,7% der erwachsenen Bevölkerung. Der Anteil an Long Covid nahm mit der Zahl der Infektionen zu. Wer bereits drei oder mehr Infektionen hinter sich hatte, gab dies in 38% der Fälle an.
- Von den Personen mit Long Covid gaben mehr als die Hälfte an, zum Untersuchungszeitpunkt im Juni 2023 weiterhin anhaltende Beschwerden zu haben, von diesen wiederum 42% seit mehr als einem Jahr. Die Hälfte spürte in dieser Zeit gar keine Verbesserung.
- Mehr als ein Fünftel der Betroffenen konnte den Beruf oder der Ausbildung nicht mehr wie vorher nachgehen.
- Nur 12,5% der Betroffenen gaben an, ausreichende medizinische Hilfe erhalten zu haben.
Diese große Studie lässt also erahnen, was für Langzeitfolgen COVID-19 auf individueller wie auch gesellschaftlicher und ökonomischer Ebene hat.
Drei rezente Studien zu den Ursachen von Long Covid-Symptomen
Veränderungen der Skelettmuskeln
Die Post-Exertional Malaise (PEM) beschreibt eine Belastungsintoleranz mit nach (auch leichter) Alltagsanstrengung auftretender Verschlechterung der Beschwerden und einem rapiden Abfall der Leistungsfähigkeit. Sie ist ein Kardinalsymptom des chronischen Fatigue-Syndroms ME/CFS und tritt entsprechend häufig bei Long Covid der ersten der ganz zu Beginn des Artikels vorgestellten Kategorien auf.
In einer Anfang Dezember 2023 publizierten Studie aus Berlin wurden die Ergebnisse von Muskelbiopsien bei 11 Personen mit Long COVID und PEM beschrieben, die im Durchschnitt ca. ein Jahr nach der Infektion erfolgten.
Im Vergleich zu Biopsien bei Personen ohne Long Covid wiesen die Long Covid-Kranken mit PEM auf mikroskopischem Level mehrere Unterschiede zu Biopsien bei Personen ohne Long Covid auf. Sie hatten weniger Kapillaren, also weniger von den feinsten Blutgefäßen, über die die Versorgung des Gewebes mit Sauerstoff und Nährstoffen erfolgt. Die verbliebenen Kapillaren hatten zudem verdickte Membranen und wiesen in ihrer Umgebung eine erhöhte Zahl bestimmter Entzündungszellen (CD169+ Makrophagen) auf. Weiters war die Zahl der Typ-2b-Muskelfasern, die in erster Linie für schnelle und kraftvolle Kontraktionen zuständig sind, reduziert.
Diese Ergebnisse sind zusammen mit weiteren Testergebnissen aus dem Blutserum der Betroffenen ein Hinweis für eine mikrovaskuläre Schädigung durch eine anhaltende Entzündungsreaktion als Folge einer persistierenden Dysregulierung des Immunsystems. Übrigens: In Magnetresonanzuntersuchungen oder anderen in der medizinischen Routine verfügbaren Untersuchungen zeigten sich keinerlei Veränderungen. Man muss weiter in die Tiefe gehen um zu sehen, dass nicht "eh alles okay" ist.
Zu vergleichbaren Ergebnissen kommt eine niederländische Studie, die vor eineinhalb Wochen publiziert wurde. Hier wurde bei 25 Probanden:innen mit Long COVID systematisch durch körperliche Anstrengung eine PEM ausgelöst, anschließend wurden Blutproben und Muskelbiopsien entnommen.
Beim Belastungstest auf einem Fahrradergometer hatten die Personen mit Long Covid eine schlechtere Sauerstoffaufnahme (V̇O2max), eine geringere Leistungsspitze (Peak Power Output) und eine geringere Belastungstoleranz (gemessen durch den Gas Exchange Treshold).
Auch in dieser Studie zeigten sich in den Muskelbiopsien Veränderungen bei den Personen mit Long Covid. In Biopsien am Tag nach dem Belastungstest waren die Veränderungen insbesondere der Mitochondrien (die "Kraftwerke" der Zellen) und des Zellstoffwechsels verstärkt. Einige der Betroffenen wiesen zudem am Tag nach der Belastung deutliche Schädigungen von Muskelfasern auf. Immerhin war die Reparaturfähigkeit der Muskelfasern nicht gestört
Weiters fanden sich Mikrokoagel im Muskelgewebe, aber überraschenderweise nicht in den Kapillaren. Und auch in dieser Studie waren bei Long Covid mehr Entzündungszellen im Gewebe, aber keine Virusbestandteile.
Veränderungen des spezifischen Immunsystems
In meinem letzten Blogartikel ging es um die Folgen von COVID-19 für das Immunsystem. Long Covid nahm ich davon dezidiert aus.
Nur zwei Tage später erschien im Nature-Verlag ein Artikel über einen Teil der Veränderungen des Immunsystems bei Long Covid. Dabei wurden jeweils 8 Monate nach einer COVID-19-Erkrankung eine Reihe von immunologischen Marker im Blut von Personen mit Long Covid mit denen von Personen ohne Folgekrankheiten verglichen.
Die Zusammenfassung der Ergebnisse für uns Nicht-Immunologen: Personen mit Long Covid wiesen systemische Entzündungszeichen und eine Dysregulation des Immunsystems auf. Dies zeigte sich in globalen Unterschieden in der Verteilung der T-Zell-Untergruppen, was auf laufende Immunreaktionen hindeutet. In entzündetes Gewebe einwandernde CD4+ T-Zellen waren häufiger, SARS-CoV-2-spezifische CD8+ T-Zellen wiesen immunologische Zeichen einer Erschöpfung auf, SARS-CoV-2-Antikörper hatten höhere Level und es bestand eine Fehlkoordination zwischen ihren SARS-CoV-2-spezifischen T- und B-Zell-Reaktionen. Die Feinabstimmung im Immunsystem klappt also offenbar nicht mehr, was einerseits die körpereigene Abwehr schwächt und andererseits zu den Long Covid-Symptomen beitragen kann.
Drei aktuelle Studien. Zweimal PEM und Muskeln, einmal das spezifische Immunsystem. Global gesehen reihen sich die drei Studien in eine inzwischen lange Reihe ein, die zwei Dinge zeigen:
- Long Covid ist ein hochkomplexes Syndrom,
- Long Covid ist nicht psychosomatisch bedingt.
Zwei Lesetipps zum Abschluss
- Vor eineinhalb Wochen hat Pia Kruckenhauser im Standard einen exzellenten Artikel darüber geschrieben, was Long Covid für die Betroffenen bedeutet. Selten habe ich in so eine kompakte und doch umfassende Zusammenfassung über dieses Thema gelesen. Ideal für alle, die eine Einführung in das Thema haben möchten. Aber auch diejenigen, die schon einiges darüber wissen, aber irgendwie in all der Komplexität den Faden zu verlieren drohen, kriegen hier einen hervorragenden Überblick.
- Manche Leute behaupten, Long Covid wäre eine Zivilisationskrankheit, die nur verwöhnte Menschen in reichen Ländern beträfe. Tatsächlich erkranken Menschen natürlich auch in einkommensschwachen Ländern an COVID-19 und folglich auch an Long Covid. Und wenn es schon in unseren Breiten eine riesige Herausforderung ist, medizinische und soziale Unterstützung zu bekommen, ist es in den meisten afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern praktisch unmöglich.
Emma-Louise Aveling, Public Health-Forscherin über die Situation in Brasilien:
“People are quietly dropping out of society.”