Wer fürchtet sich vor der Vogelgrippe?

Die Vogelgrippe H5N1 ist auf Säugetiere übergesprungen, zuletzt auch auf Milchkühe. Ein Versuch einer Einordnung der letzten Entwicklungen.

Wer fürchtet sich vor der Vogelgrippe?

Die wichtigsten Punkte

  • Das Vogelgrippe-Virus A/H5N1 ist zuletzt vermehrt in den Nachrichten, da es in recht kurzer Zeit Wildvogelbestände auf der ganzen Welt erfasst und dezimiert, zu Ansteckungen bei mehr als 40 Säugetierarten geführt und zuletzt auch Milchkühe in mehreren US-Bundesstaaten erwischt hat.
  • Es stellt aktuell keine Gefahren für Menschen dar. Die wenigen infizierten Personen hatten engen Kontakt mit erkrankten Tieren. Die meisten Betroffenen hatten nur geringe Symptome, es kam aber auch zu schweren Verläufen. Bei den ersten Subvarianten bis ca. 2015 starb dagegen fast die Hälfte der Erkrankten.
  • Die dynamische Situation birgt aber die Gefahr mit sich, dass ein auf Säugetiere und Menschen adaptiertes H5N1-Virus entsteht. Wenn das passiert, könnte das der Ausgangspunkt für eine neue Pandemie sein.
  • Die Triebfeder der Entwicklung seit dem Auftauchen der hochpathogenen Subvariante des H5N1-Virus ist - wieder einmal - die Massentierhaltung.

"H5N1 Uncertainty"

Anfang April steckte sich ein Texaner mit der Vogelgrippe an, genauer gesagt mit dem Influenzavirus A/H5N1. Er erkrankte nur leicht, eine Bindehautentzündung der Augen war alles. Trotzdem sorgte der Fall für einige Aufregung in der Fachwelt. Denn fast alle bisher mit der Vogelgrippe angesteckten Menschen waren Arbeiter auf Geflügelfarmen und hatten engen Kontakt mit infizierten Vögeln gehabt. Der Mann in Texas arbeitete aber auf einer Rinderfarm und steckte sich an infizierten Milchkühen an.

Das ist ungewöhnlich und sorgte dafür, dass zum Beispiel der Infektionsepidemiologie Michael Osterholm, Direktor des Center for Infectious Disease Research and Policy (CIDRAP) an der Universität Minnesota, seinen Podcast vom 4.April "H5N1 Uncertainty" titelte. Osterholm hat sein halbes Leben mit der Erforschung der Influenzaviren verbracht und an sich das Risiko eines Überspringens der Vogelgrippe auf die Menschen als gering erachtet. Jetzt sagt er in seinem Podcast:

"Ich schließe mich der Einschätzung der WHO und der CDC an, dass das Risiko für den Menschen nach wie vor gering ist. Das kann sich aber innerhalb eines Herzschlags ändern. Deshalb müssen wir alles tun, was wir können, um besser vorbereitet zu sein."

Wenn schon die Experten sich unsicher geworden sind, was sollen wir dann von der ganzen Sache halten?

Ein Versuch, einen Überblick über die unklare Situation zu bekommen.


Die Influenzaviren

Dass Grippeviren von Vögeln auf Säugetiere inklusive Menschen überspringen ist nicht so ungewöhnlich. Alle Influenzaviren kamen ursprünglich von Vögeln, sprangen irgendwann auf neue Wirte wie den Menschen über und passten sich an diese an. Tritt ein für unser Immunsystem noch unbekannter Subtyp auf, kann das schlimme Folgen haben. Die Spanische Grippe war z.B. die Folge des erstmaligen Übertritts des A/H1N1-Subtyps.

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Das spuckt Unsplash aus, wenn man nach Influenza sucht. Nehmen wir also an, es handelt sich um Influenza-Viren. Photo by CDC / Unsplash

Für den Menschen gefährlich sind v.a. die Influenza-A-Viren, die für die jährlichen Grippewellen hauptverantwortlich sind und alle großen Grippepandemien und -epidemien verursachten. Sie werden durch die Oberflächenantigene H (Hämagglutinin) und N (Neuraminidase) eingeteilt. Die Grippewelle 2023/24 wurde beispielsweise durch eine Variante von A/H1N1 und zu einem viel geringeren Teil durch eine A/H3N2-Variante hervorgerufen.

Influenza-A-Viren sind durch eine sehr hohe Mutationsfreudigkeit gekennzeichnet. Eine Besonderheit der Influenza-A-Viren ist der Antigenshift. Wird ein Wirt mit zwei verschiedenen Influenza-A-Virenstämmen infiziert, können diese ganze Gensequenzen austauschen, wodurch neue Subtypen und Stämme entstehen können. Solche neuen Stämme führten zu den großen Influenza-Pandemien des 20.Jahrhunderts, vor allem natürlich zur Spanischen Grippe mit rund 50 Millionen Toten, aber auch zur Asiatischen Grippe 1957 und der Hongkong-Grippe 1968 (jeweils bis zu 4 Millionen Tote) oder zur Schweinegrippe 2009 (rund 300.000 Tote).

Die Influenza-B-Viren führen in der Regel zu milderen Erkrankungen als die Viren aus der A-Gruppe. Die Erkrankungen treten in der Regel später auf, erst im Frühling nach Abklingen der Grippewelle. Die Influenza-B-Viren mutieren auch viel weniger und kommen in Tieren kaum vor. Der in den letzten Jahren führende Subtyp dieser Gruppe, die Yamagata-Linie ist nach den Corona-Lockdown nicht wieder aufgetaucht. Möglicherweise wurde dieses Virus durch die Maßnahmen ausgerottet. Die Influenza-C und D-Subtypen führen beim Menschen allenfalls zu sehr milden Infektionen und haben keine weitere medizinische Bedeutung.


Die Influenza A/H5N1

H5N1 ist nicht das einzige Influenzavirus, das Vögel befällt. Wie schon oben erwähnt entwickelten sich alle heutigen Grippeviren zunächst in Vögeln. Aber seit den ersten Ausbrüchen in den 1990er Jahren richtet das H5N1 bei weitem am meisten Schaden in Vogelpopulationen an. Wenn man von der Vogelgrippe spricht, wird deshalb üblicherweise dieser Subtyp gemeint.

Erstmals identifiziert wurde der hochpathogene Subtyp von H5N1 in Geflügelfarmen in Asien. Auf Geflügelmärkten in Hongkong kam es zu den ersten dokumentierten Ansteckungen von Menschen. Die Behörden unternahmen damals drastische Maßnahmen zur Eindämmung der Vogelgrippe. Am 27. und 28.Dezember 1997 wurden in Hongkong an zwei Tagen 1,3 Millionen Hühner gekeult. In den nächsten Jahren kam es wiederholt zu Phasen geringerer Virusaktivität gefolgt von größeren Ausbrüchen - wahrscheinlich getriggert durch Anpassungen als Folge von neuen Virusmutationen. Bis 2015 steckten sich über 800 Menschen an, mehr als die Hälfte von ihnen verstarben. Ab dann traten kaum mehr Ansteckungen von Menschen auf. Zur gleichen Zeit war aber auch eine grundsätzliche Änderung des Virus zu sehen, das ab nun weltweit vermehrt Wildvögel betraf und von diesen weltweit ausgebreitet wurde.

2021 trat wieder eine neue Subvariante von H5N1 auf, die eine Variante von H5 aufweisen, die die Virologen als H5-2.3.4.4b bezeichnen. Und mit ihr änderten sich einige weitere Eigenschaften des Virus. Es verbreitete sich nun rascher aus und war offenbar auch deutlich virulenter für Wildvögel als seine Vorgänger und rief in diesen eine verheerende Vogelpandemie hervor, die nach wie vor am Laufen ist, wie alleine dieser Blick auf die Vogelgrippe in Europa zeigt:

Quelle: https://app.bto.org/mmt/avian_influenza_map/avian_influenza_map.jsp

Im Februar 2024 wurde es erstmals auf der Antarktis in verendeten Möwen nachgewiesen. Ein Übertritt auf Pinguine könnten ganze Populationen in Gefahr bringen. Die Pandemie ist so heftig, dass sie die globale Artenvielfalt bedroht.

Aber nicht nur die Verbreitung bei den Wildvögeln änderte sich. Es wurden mit 2.3.4.4b auch immer häufiger Infektionen von Säugetieren festgestellt, inzwischen bei über 40 Arten von Leoparden über Füchse bis zu Seelöwen und Eisbären. Dabei handelte es sich fast ausschließlich um Raubtiere , die sich durch das Fressen infizierter Vögel angesteckt hatten.

Das änderte sich im März 2024, als Milchkühe in den USA erkrankten. Inzwischen wurde H5N1 in Milchfarmen mehrerer US-Bundesstaaten festgestellt, womit wir es mit dem ersten großen Ausbruch bei pflanzenfressenden Säugetieren zu tun haben.

Menschen sind von der Vogelgrippe durch H5-2.3.4.4b bisher nur in ganz vereinzelten Fällen betroffen. Die meisten dieser Personen hatten nur sehr leichte Symptome - so wie der Milchbauer in Texas. Kein Vergleich zur rund 50%igen Todesrate bei den früheren Fällen.


Die Vogelgrippe bei Menschen

Seit 2015 gab es kaum mehr Fälle der Vogelgrippe bei Menschen und davor weltweit nicht einmal 1000 nachgewiesene Fälle. Die meisten der mit der aktuellen Variante infizierten Personen hatten zudem nur milde Symptome. Nicht im Sinne von Covid-mild, sondern wirklich mild. Rote, tränende Augen und vielleicht eine leichte Müdigkeit. Alle großen Seuchenschutzbehörden - von den CDC in den USA und der ECDC in Europa bis zur WHO - stufen das aktuelle Risiko für die Menschen als gering ein. Warum beobachten Infektionsepidemiologen und Virologen die aktuelle Entwicklung dennoch besonders genau?

Schauen wir erst auf den Infektionsweg der Vogelgrippe.

Viren befallen Zellen, indem sie mittels Rezeptoren an Oberflächenmoleküle der Zellen andocken, die sie quasi als blinde Passagiere missbrauchen, um in die Zelle hinein zu gelangen. Im Falle von SARS-CoV-2 ist das beispielsweise ACE2. Humanpathogene Influenzaviren nutzen ein Molekül namens Alpha-2-6-Sialinsäure, das - wie auch ACE2 - besonders häufig auf den Schleimhäuten der oberen Atemwege vorkommt. Der ideale Ort, um den Wirten einfach zu infizieren und sich dann via Tröpfchen und Aerosole rasch weiter zu verbreiten.

Die Vogelgrippe H5N1 dockt hingegen an die Alpha-2-3-Sialinsäure an. Ein kleiner aber wichtiger Unterschied. Die Alpha-2-3-Sialinsäure kommt nämlich bei Vögeln in den oberen Atemwegen vor, nicht aber bei Menschen. Sehr wohl aber findet sie sich in den tief unten in unseren Atemwegen (und in der Augenbindehaut - der Grund für die Häufung an Bindehautentzündungen). Das ist der Grund, warum sich H5N1 schwer tut, uns zu infizieren - es muss in ausreichender Zahl tief in die Lunge gelangen - und warum Infizierte es selten weitergeben. Fast alle bisher infizierten Menschen hatten einen sehr engen, länger dauernden Kontakt mit Massen an infizierten Vögeln in Geflügelfarmen.

Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum die Infizierten entweder einen besonders leichten oder einen schweren bis tödlichen Verlauf haben. Bei den meisten Betroffenen schaffen es die Viren nicht bis in die Lunge und erkranken nur sehr leicht - meist mit der Bindehautentzündung als einziges Symptom. Gelingt es dem Virus aber, bis tief in die Lunge zu gelangen, besteht ein hohes Risiko einer schweren viralen Lungenentzündung.

Der Knackpunkt für den Übertritt auf den Menschen ist also, ob es dem Virus gelingt, sich an uns anzupassen und einen einfacheren Weg zu finden, uns zu infizieren. Gelingt das nicht, wird es lediglich vereinzelte Fälle von besonders exponierten Personen geben. Gelingt es dem Virus, ist die Bühne frei für eine neue Pandemie.

Infektionen von Säugetieren

Da kommen die seit 2021 deutlich vermehrten Infektionen von Säugetieren ins Spiel. Bis dahin gab es immer wieder einzelne Ansteckungen, aber seither ist das auf ein ganz anderes Level angestiegen. Das bedeuten, dass das Virus immer mehr Gelegenheiten bekommt, sich an uns anzupassen. In den Worten des niederländischen H5N1-Spezialisten Ron Fouchier:

"Wir haben noch nie ein derartiges Ausmaß an Infektionen bei Säugetieren und bei einer derartigen Vielfalt an Säugetieren gesehen. Bei den letzten Ausbrüchen wurden mehr als 40 Säugetierarten infiziert, was beispiellos ist. Wir wissen, dass die Grippe unberechenbar ist. Aber wir wissen auch, dass eine Anpassung des Virus an Säugetiere nicht gut ist." (Quelle)

Bisher ist diese wesentliche Anpassung an Säugetiere offenbar noch kaum passiert - jedenfalls gibt es bisher kaum Beweise von einer Übertragung von Säugetier zu Säugetier. Die Ansteckungen betrafen bisher allesamt Raubtiere, die sich durch das Fressen von infizierten Vögel angesteckt hatten.

Forscher untersuchen einen an H5N1 gestorbenen Seelöwen in Chile. (Quelle: https://www.unmc.edu/healthsecurity/transmission/2023/04/25/more-than-3300-sea-lions-in-chile-die-of-h5n1-bird-flu/

Deshalb sorgten die infizierten Kühe in den USA nun für einige Aufregung. Wie steckten sich die Pflanzenfresser an? Inzwischen deutet einiges darauf hin, dass es auch bei ihnen das Futter war, und zwar in Form von Abfällen aus der Geflügelzucht. Das bringe ich wohl am besten als Zitat aus dem Artikel von Lars Fischer im Spektrum:

"Die Mischung aus Fäkalien, Federn, verschüttetem Futter und anderen Rückständen aus Geflügelställen kann als Viehfutter genutzt werden, weil Wiederkäuer wie Kühe dank ihrer besonderen Verdauung Stoffe verwerten können, die für andere Säugetiere nicht essbar sind."

Aus infektiologischer Sicht wäre dieser unappetitliche Weg der Ansteckung eine gute Nachricht. Noch ist allerdings noch nicht bewiesen, ob das tatsächlich der Übertragungsweg auf die Kühe war oder ob es nicht doch bereits zu einer Anpassung an Säugetiere gekommen ist. Kühe wären diesbezüglich aus Virussicht sowieso keine guten Kandidaten, da sie von den Influenza-A-Viren generell kaum betroffen sind. Die Sorge der Wissenschaft ist viel eher eine Übertragung der Vogelgrippe auf Schweine.

Die Sache mit den Schweinen

Die Sorge begründet sich auf dem weiter oben schon beschriebenen Antigenshift, bei dem es durch die gleichzeitige Infektion mit zwei verschiedenen Influenza-A-Virenstämmen zum Austausch ganzer Gensequenzen kommen kann. Im Falle der Infektion eines Säugetiers mit H5N1 könnte es so zu einem Austausch mit einem bereits auf Menschen adaptiertes Influenza-Virus kommen, wodurch wir es mit einem neuen humanpathogenen Virus zu tun bekommen könnten, auf das unser Immunsystem noch keine gute Antwort hätte.

Schweine sind dafür besonders gut geeignet. Sie haben nämlich sowohl die Rezeptoren für humane Influenza als auch für die Vogelgrippe. Damit sind ein fast ideales lebendes Labor zur Herstellung eines humanen Vogelvirus. Das ist nicht nur Theorie - die Spanische Grippe entstand vermutlich so, und bei der Schweinegrippe von 2009 ist dieser Weg der Entstehung nachgewiesen.

All das ist mit H5N1 nicht passiert. Deshalb ist das aktuelle Risiko gering. Aber wie wie Michael Osterholm in seinem Podcast sagt:

"Wir müssen hier ganz klar stündlich, nicht täglich, auf dem Laufenden bleiben. Und ich kann nur hoffen, dass wir auch weiterhin keine Ansteckung von Menschen mit diesen Viren erleben, aber ich weiß, dass sich das morgen schon wieder ändern kann." (Quelle)

Jedenfalls sorgt die industrielle Massentierhaltung neben vielen anderen ökologischen, ethischen und gesundheitlichen Problemen auch dafür, dass das Risiko einer neuerlichen Pandemie beträchtlich ist. Was legale und illegale Futtermittel für Schweine und andere Zuchttiere dazu beitragen, möchte ich mir lieber gar nicht ausmalen.


Update am 28.04.24

Wie sich nun zeigt, sprang H5N1 offenbar schon vor Monaten auf Rinder über und verbreitete sich dann in diesen. Das bedeutet auch, dass es offenbar direkt von Kuh zu Kuh weitergegeben wird und nicht etwa über kontaminiertes Futter, wie zuletzt vermutet worden war.

Für Menschen geht von dem offenbar inzwischen an Rinder adaptierten Virus weiterhin kaum eine Gefahr aus, aber dass es überhaupt zu der Anpassung an ein Säugetier gekommen ist, ist kein gutes Zeichen.

Hier der Bericht dazu im Nature:

Bird flu virus has been spreading in US cows for months, RNA reveals
Genomic analysis suggests that the outbreak probably began in December or January, but a shortage of data is hampering efforts to pin down the source.