Wie häufig ist Long Covid? Die endgültige Antwort (oder doch nicht)

36% ist die Antwort. Oder auch nicht.

Wie häufig ist Long Covid? Die endgültige Antwort (oder doch nicht)
  • Einer neue, große Meta-Analyse untersuchte, wie viele der an COVID-19 erkrankten Personen in der Folge an Long Covid erkranken.
  • Das Ergebnis von 36% ist nicht nur schockierend hoch, sondern wird der Komplexität und Diversität von Long Covid auch nicht gerecht.
  • Was die Studie wirklich liefert: Einen Eindruck dafür, dass Long Covid - in all seinen Erscheinungsformen - inzwischen einer Volkskrankheit gleichkommt.
  • Und: dass Impfungen das Risiko der Erkrankung deutlich senken.

Jetzt wissen wir es also: 36% aller COVID-Kranken leiden später an Long Covid - zumindest für eine Dauer von mindestens 2 Monate. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Meta-Analyse, also einer Studie, in der die Daten zahlreicher Einzelstudien zu diesem Thema gepoolt und gewichtet werden. Punkt. Dieses Ergebnis wurde von manchen Medien ohne Kontext so wiedergegeben.

Ich halte das für problematisch. Wie hier schon öfters thematisiert, ist Long Covid nicht einfach eine klar definierte Krankheit, sondern ein Überbegriff für eine Reihe verschiedenster Folgeerscheinungen der Infektion. Weiter verkompliziert wird das durch im Laufe der Zeit wechselnde Definitionen und Namen für diesen Sammelbegriff.

Das hat zur Folge, dass alles von leichten Symptomen, die - der aktuellen WHO-Definition entsprechend - mindestens drei Monate nach der Infektion mindestens zwei Monate lang anhaltend sind und nicht durch eine andere Diagnose erklärt werden können, über lang anhaltende, den Alltag beeinflussende Beschwerden bis zu ganz schweren Fällen von ME/CFS, die zur Bettlägerigkeit von zuvor meist gesunden Menschen führen können, als Long Covid gilt.

Ausführlicher versuchte ich dieses Thema unter anderem in diesem Artikel zu besprechen:

Long Covid: Lost in Definition
Von der Entstehung des Begriffs Long Covid bis zur ultimativen Einteilung der COVID-Langzeitfolgen.

Dort findet sich auch eine meiner Meinung nach sehr brauchbare Unterteilung von Long Covid in drei grundlegende Formen. Wer möchte, findet sie hinter dem folgenden Dropdown-Menü:

Drei grundlegende Formen von Long Covid

  1. Anhaltendes symptomatisches COVID-19 bzw. anhaltende Folgen von COVID-19: Das sind andauernde Symptome (vor allem) bei schwerem COVID-19 aufgrund von Organschäden (z. B. Gehirn-, Herz-, Nieren-, Lungenschäden) oder Therapie (z. B. durch die Beatmung oder die Dekonditionierung durch einen Intensivaufenthalt).
  2. Durch SARS-CoV-2 induzierte, ausgelöste oder verschlimmerte Erkrankungen. Symptome für > 4 Wochen aufgrund der Verschlimmerung einer vorbestehenden Erkrankung oder Neuauftretens von Erkrankungen, die mit der SARS-CoV2-Infektion in Zusammenhang stehen (z. B. Thrombose, Schlaganfälle, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen, Diabetes, demenzielle Syndrome) und/oder damit verbundene erhöhte Risiken.
  3. Postakutes COVID-Syndrom (kann nicht durch eine andere Diagnose wie die oben genannten erklärt werden). Das ist die Form von Long Covid, die in die Richtung von ME/CFS geht und die sich zu den postakuten Infektionssyndromen (PAIS) gesellt, die wir von anderen Infektionskrankheiten kennen.

In den meisten Studien zur Häufigkeit werden die verschiedenen Formen vermischt. Was herauskommt, würde man in Wien als Pallawatsch bezeichnen. Wenn man ohne weiteren Kontext einfach die 36% wiedergibt, dann gibt man genau diesen Pallawatsch wieder.

Es ist aber durchaus wert, die Studie etwas genauer anzuschauen. Sie hat nämlich den Vorteil, uns einen Eindruck dafür zu geben, dass Long Covid - in all seinen verschiedenen Formen und Ausprägungen - einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung betrifft.


Die Prävalenz von Long Covid bei Erwachsenen

Die Studie mit den 36% ist eine große Meta-Analyse, also eine Studie, in der der Ergebnisse mehrerer Originalstudien gepoolt werden ("Global Prevalence of Long COVID, its Subtypes, and Risk factors: An Updated Systematic Review and Meta-Analysis"). Mit solchen Meta-Analysen versucht man, unerwartete Einflussfaktoren auf das Studienergebnis möglichst gering zu halten.

Insgesamt wurden für diese Meta-Analyse über 400 Einzelstudien von 2021 bis 2024 inkludiert. 144 dieser Studien gaben die Prävalenz von Long Covid an, also den Anteil der Personen, die im Studienzeitraum an Long Covid erkrankt waren. Das Ergebnis waren eben die 36% aller COVID-19-Kranken, die später an Long Covid erkrankten. Punkt.

Dass es eben nicht ganz so einfach ist, erfährt man bei etwas genauerer Betrachtung. Die in den einzelnen Studien erhobene Häufigkeit reicht von 1% bis zu 92%. Aber der Vorteil einer Meta-Analyse ist eben auch, dass solche extremen Resultate sich gegenseitig ausgleichen. Zudem weisen die Autor*innen darauf hin, dass vor allem in den früheren Studien ein überproportionaler Teil der in den Studien erfassten Betroffenen eine Hospitalisierung hinter sich hatten, es sich also um einen schwereren Verlauf von COVID-19 gehandelt hatte, was per se häufiger zu Long Covid führt. Tatsächlich kamen jene Studien, die nur hospitalisierte Personen betrachteten, auf eine Häufigkeit von 44%.

Wichtig ist weiters, dass alle Personen erfasst wurden, die zu irgendeinem Zeitpunkt die Kriterien für Long Covid erfüllten. Also auch diejenigen, die davon in der Folge genesen waren. Wie hoch deren Anteil ist, konnte in dieser Meta-Analyse nicht erhoben werden. Die Autor:innen verweisen aber auf eine Erhebung der CDC von 2024, laut der 29,8% der erwachsenen US-Amerikaner:innen zu irgendeinem Zeitpunkt Long Covid hatten, aber "nur" 8,7% zum Untersuchungszeitpunkt. Von diesen gaben 24,3% eine "signifikante" Einschränkung ihres Alltags an.

Gefühlsmäßig dürften diese Zahlen der Realität recht nahe kommen. Anhaltende Beschwerden nach COVID-19 sind wohl häufiger, als man meinen möchte - auch weil viele der Symptome dann doch recht leicht sind und auch wieder verschwinden. (Wahrscheinlich bringen viele Betroffene ihre Beschwerden nicht einmal selber mit der Infektion in Zusammenhang). Bei der satten Zahl von rund 10% bleiben die Beschwerden dauerhaft bestehen, 2 bis 3% sind wirklich schwer betroffen.

Faktoren für ein erhöhtes Risiko für Long Covid

Ein Blick auf zumindest in einigen der Studien erhobenen Faktoren, die das Risiko für Long Covid erhöhen, bringt ein altbekanntes Ergebnis. Neben Vorerkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes sticht vor allem eines heraus: Ungeimpfte haben ein rund doppelt so hohes Risiko einer Erkrankung an Long Covid wie Geimpfte (wieder ohne auf die verschiedenen Facetten der Krankheit einzugehen). In der Studie ist der Impfstatus sogar der signifikanteste Einzelfaktor.

Als weiterer Risikofaktor entpuppte sie wie in vielen Studien zuvor eine Infektion mit einer der Virusvarianten vor Omikron. Woran das liegt, ist noch nicht restlos geklärt.

Liegt es an den Virusvarianten oder an den Impfungen?

Dass das Risiko, nach der Infektion an Long Covid zu erkranken, im Laufe der Pandemie abgenommen hat, ist nicht neu. Ebenso, dass aufgrund der Masse an Infektion die Gesamtzahl der Long Covid-Fälle trotzdem zunimmt. Darüber gab es schon vor 2 Jahren genug Material für einen Blogartikel:

Über das Risiko einer Erkrankung an Long Covid
Substack-Artikel vom 07.11.2023: :: Das individuelle Risiko ist gesunken, aber die Zahl der Infektionen ist gestiegen :: Der Verlauf von Long Covid ist bei Omikron nicht glimpflicher als bei den früheren Varianten :: Die Immunitätswand aus Impfungen und früheren Infektionen führt dazu, dass COVID-19 in den meisten Fällen zwar unangenehm ist,

Ein wichtiger - vielleicht der wichtigste - Grund für die Abnahme des Long Covid-Risiko sind die Impfungen. Erst im August dieses Jahres erschien genau zu diesem Thema eine Meta-Analyse ("Effectiveness of COVID-19 vaccines against post-COVID-19 condition/long COVID: systematic review and meta-analysis"). Fast alle dafür ausgewerteten Einzelstudien zeigten einen mehr oder weniger deutlich Schutz der Impfungen. Im Durchschnitt lag die Wirksamkeit von mindestens einer Impfdosis bei rund 40%. Boosterimpfungen verbesserten die Wirksamkeit auf bis zu 70%.

Wirksamkeit des Impfstoffs (mindestens eine Dosis) vs. nicht Geimpfte in den einzelnen Studien. Eine Impfstoffwirksamkeit ("Vaccine Eff.) von mehr als 0% spricht für die Impfung.

Aber: Kaum waren die großen Impfkampagnen abgeschlossen, begann sich Omikron durchzusetzen. Es stellte sich also die Frage, ob es sich tatsächlich um einen reinen Effekt der Impfungen handelt, ob die neuen Virusvarianten per se harmloser sind.

Eine aufwändige Studie genau zu diesem Thema erschien vor etwa einem Jahr im NEJM ("Postacute Sequelae of SARS-CoV-2 Infection in the Pre-Delta, Delta, and Omicron Eras"). Die Arbeitsgruppe um Ziyad Al-Aly griff dafür wieder einmal auf den scheinbaren unendlichen Datensatz der US-Veteranen zurück. Zumindest bei dieser Gruppe von großteils älteren Männern war das Long Covid-Risiko sowohl bei den Ungeimpften als auch bei den Geimpften in der Omikron-Ära niedriger als in der Delta-Ära. Der Effekt der Impfungen war dabei fast dreimal so groß wie der der Virusvarianten und sorgten auch hier für ein rund 40%ige (Delta-Phase) bis 50%ige Reduktion (Omikron) des Risikos für Long Covid.

Kumulative Inzidenz von Long Covid in der Prä-Delta-, Delta- und Omikron-Ära je nach Impfstatus.

Diese Daten deuten also darauf hin, dass es tatsächlich in erster Linie die Impfungen sind, die das individuelle Risiko für Long Covid gesenkt haben.


Long Covid in Afrika am Beispiel von Ruanda

Die Autor*innen der oben vorgestellten Meta-Analyse weisen auch daraufhin, dass es aus manchen Weltgegenden kaum Daten zu Long Covid gibt. Umso bemerkenswerter ist eine recht große Studie, die wenige Tage nach der Meta-Analyse publiziert wurde. Eine Forschungsgruppe aus Ruanda versuchte mittels Telefoninterviews herauszufinden, wie häufig die Krankheit in ihrem Land ist ("Prevalence and characterization of post-acute sequelae of SARS-CoV-2 infection (PASC) in Rwanda").

Aus einem Pool von 278.000 Bewohner*innen von Ruanda, die eine nachgewiesene COVID-Infektion gehabt hatten, wurde etwas über 3000 repräsentativ ausgewählt. Sie wurden nach der Art und Dauer etwaiger Symptome. Das Ergebnis glich weitgehend dem in der zuvor vorgestellten Meta-Analyse. 34% erfüllten die Diagnosekriterien von mindestens 3 Monaten nach der Infektion anhaltenden Beschwerden für eine Dauer von mindestens 2 Monaten. Auch hier hatten Personen mit Vorerkrankungen ein höheres Risiko. Der Einfluss der Impfungen konnte hier nicht statistisch erfasst werden. Der Grund: Von den über 3000 Befragten waren ganze 16 Personen ungeimpft, also gerade einmal 0,5% - viel zu wenige für eine auch nur halbwegs sinnvolle Statistik.

Die Symptome der Betroffenen glichen - wenig überraschend - weitgehend jenen aus anderen Studien. Neben Schmerzen des Bewegungsapparats und des Kopfes gaben sie vor allem Schwindel und Erschöpfungszustände an.

In Onlineforen und Social Media bin ich gelegentlich über die Behauptung gestolpert, Long Covid wäre eine Zivilisationskrankheit des satten Europa oder gar eine Einbildung von "verweichlichten Westlern". In Afrika gäbe es das nicht und überhaupt wäre COVID-19 dort kein Thema gewesen. Diese Studie zeigt eindrücklich das Gegenteil.

Was die Akutinfektion in Afrika für Auswirkungen hatte, war übrigens auch schon Thema in diesem Blog. Manche behaupten, in Afrika wäre das Leben einfach weiter gegangen, Europa hätte Panikmache betrieben. Tatsächlich führte die Pandemie dort (und in den armen Andenstaaten Lateinamerikas) sogar zu einem weit größeren Einbruch der Lebenserwartung als in Europa:

Der größte Einbruch der Lebenserwartung seit dem 2.Weltkrieg
Zwei große neue Studien belegen den globalen Einbruch der durchschnittlichen Lebenserwartung durch die Pandemie. Am größten war der Einbruch in Afrika südlich der Sahara und in den Andenstaaten Südamerikas.

Die Ergebnisse im Kontext

Es wäre meiner Meinung nach falsch, sich auf die eine Zahl von 36% Personen mit Long Covid nach der Infektion zu versteifen. Zu viele Variablen wie Zeitpunkt und Verlauf der Infektion, Alter und Vorerkranken der untersuchten Personen und nicht zuletzt der Impfstatus beeinflusen das Ergebnis - ganz abgesehen von der Definition von Long Covid und der Methode der Datenerhebung. Und die Auswirkungen von wiederholten Infektionen wird in kaum einer der Studien thematisiert.

Ich denke es genügt die Erkenntnis, dass weit mehr Menschen als gemeinhin vermutet zumindest eine zeitlang Long Covid-Symptome haben. Irgendwas um 10% haben Symptome die lange oder sogar für immer bleiben. Dass das enorme Auswirkung auf das Gesundheitssystem und nicht zuletzt auch auf den Arbeitsmarkt und die Volkswirtschaft hat, liegt auf der Hand. Bringt man das in Kontext mit der Versorgung von Long Covid-Kranken und insbesondere von ME/CFS, die bisher nirgendwo auch nur annähernd zufriedenstellend gelöst ist, lässt sich der Berg an Problemen erahnen, vor dem wir stehen.

Und die Gesamtzahl der Betroffenen wird mit jeder neuen Welle weiter zunehmen. Das Abwassermonitoring zeigt am Beispiel von Wien wie sehr COVID-19 gerade wieder Fahrt aufnimmt, und das SARI-Dashboard bestätigt den Eindruck aus dem Spital, dass auch die Zahl der Hospitalisierungen wieder steigt: