[Flashback] Der 22.März 2021

Als in der dritten COVID-Welle die Intensivstationen in Wien am Zusammenbrechen waren, schrieb ich einen Frust-Thread auf Twitter und wurde so mitverantwortlich für einen Lockdown. Ein Rückblick nach drei Jahren.

[Flashback] Der 22.März 2021

Die Ausgangslage

Im März 2021 waren wir in der dritten COVID-19-Welle. Während die erste Welle aufgrund der recht raschen und konsequenten Maßnahmen in Österreich noch vergleichsweise glimpflich verlaufen war, hatte uns die zweite Welle im Herbst mit voller Wucht erwischt. Zwischenzeitlich war Österreich das Land mit der höchsten Zahl an täglichen Todesfällen relativ zur Einwohnerzahl. Weltweit.

Diese zweite Welle war noch gar nicht wirklich ausgeklungen, da rollte dank einer neuen, von der WHO als Alpha bezeichneten Virusvariante schon die nächste Welle über uns. Die Impfkampagne war zwar schon am Laufen, Österreich gehörte aber unter den Ländern Westeuropas zu jenen, mit der geringsten Zahl an impfbereiten Personen.

Die Zahl der COVID-19-Kranken in den Intensivstationen laut Our World in Data. Nach der noch relativ kleinen ersten Welle folgte im Spätherbst 2020 die große Welle mit dem Wildtyp, knapp gefolgt von der Alpha-Welle und im Spätherbst 2021 die Delta-Welle.

Warum auch immer war das nationale Epizentrum der Alpha-Welle in Ostösterreich. Mehr als ein Drittel aller intensivpflichtigen COVID-19-Kranken musste zu dem Zeitpunkt in Wien versorgt werden. Die Zahl der COVID-Kranken auf den ICU übertraf in Wien sogar den Höchststand der vorigen Welle. Das von der letzten Welle schon ausgebrannte Personal hatte noch nicht einmal Zeit zum Durchschnaufen gehabt, da waren wir in den Spitälern schon wieder am Anschlag. Gleichzeitig machten uns die Coronaleugner, die Impfgegner und nicht zuletzt die inzwischen auf einen harten Anti-Kurs setzende FPÖ zunehmend das Leben schwierig.


Ein Sonntagsdienst und der Tag danach

Das war also die Ausgangslage für meinen 25-Stunden-Dienst am Sonntag, den 21.03.2021.

Es war kein besonders anstrengender Dienst, was das Arbeitspensum betraf. Es waren die Entscheidungen, zu der ich aufgrund der überlasteten Intensivstationen gezwungen war. Belastend war vor allem, dass jeder mit offenen Augen seit Wochen gewusst hatten, dass wir auf diese Situation zusteuerten, und dass sie vermeidbar gewesen wäre.

Am Montag - nach dem Dienst - wollte ich schlafen und konnte es nicht. Ich war zu aufgewühlt. Also setzte ich mich irgendwann an den Laptop und schrieb einen Thread über den Sonntagsdienst. Ich war aufgrund meiner COVID-19-Tweets zu einer Semiprominenz von Austrotwitter geworden, hatte rund 15.000 Follower, war es also inzwischen gewohnt, dass manches von mir geschriebene recht viel Resonanz fand. Aber das, was nach diesem Thread passierte, stellte alles zuvor erlebte in den Schatten. Ich war darüber ehrlich überrascht. Alle anderen schienen über meine Überraschung überrascht.


Der Thread

Einiges hätte ich im Nachhinein anders geschrieben (vor allem das missverständliche "Belügen" eines Patienten und seiner Tochter. Einiges ist stilistisch zusammengestutzt, um in das Tweet-Format zu passen. Ich gebe den Thread hier trotzdem 1:1 so wieder, wie ich ihn damals geschrieben habe:

Das ist die Situation der #COVID19 Intensivbetten in #Wien. Wir haben mit 165 belegten Betten den Höchststand von 162 vom 21.11.2020 übertroffen. Alleine in den letzten 2 Tagen kamen 27 ICU-Patienten dazu. Netto, wohlgemerkt. D.h. übers Wochenende wurden >2 neue ICUs gefüllt. /1
In dieser Situation hatte ich von gestern früh bis heute früh einen OA-Dienst. Er wird mich noch länger beschäftigen. Es ist ein schmaler Grat zwischen Informieren und Schockieren. Deshalb habe ich lange überlegt, ob und wie ich darüber schreiben soll. Ich tu es jetzt einfach. /2
Es begann damit, dass mir schon bei Dienstantritt mitgeteilt wurde, dass es in ganz Wien nur mehr ein einziges reguläres COV+ Intensivbett gebe + einzelne Notbetten ohne Personal dafür. Eines davon auf unserer an sich vollbelegten ICU. /3
Was also tun mit dem 70jährigen Diabetiker, der sich seit der Aufnahme vor ein paar Tagen progredient verschlechtert hatte und auf unserer Normalstation trotz auf Maximum eingestellter HFNC (siehe Werbefoto) nur mehr auf 85% sättigte? /4
Also nicht-invasive Maskenbeatmung (siehe Werbefoto), geht aber nur auf Überwachung oder ICU. Der Patient: Komplett selbständig alleine lebend, aber 70 und Vorerkrankungen. D.h. schlechter Verlauf wahrscheinlich. Soll ich das Notfallbett opfern und dann "zu" sein? /5
Entscheidung: Nein, denn sonst habe ich keine Möglichkeit mehr, eine jüngere, nicht vorerkrankte Person auf der ICU zu versorgen. Pulmo-Überwachung gibt ihr letztes freies Bett her, Transferierung dorthin. /6
Davor Gespräch mit Pat. der sich vor dem Ersticken fürchtet, Beruhigung, "wir tun alles für Sie", was gelogen ist. Ich habe ihm die ICU verwehrt. Telefonat mit der weinenden Tochter. Versteht nicht, warum der Papa jetzt so schlecht ist wegen "Grippe". Obige Lüge auch für sie. /7
Zwischenzeitlich Visite, Gespräche, normale Aufnahmen, Routine. Abends Anfrage von der Notfall. Patienten in den Schockraum bekommen, hochgradiger Vd. auf COVID. Wurde vom Ärztefunkdienst mit 50% Sättigung bei Raumluft angetroffen, bereits seit 2Wo zunehmende Symptome. /8
Das Rettungsprotokoll lässt die zunehmende Verzweiflung der Sanis und die Bettensituation in Wien erahnen. "Leitstelle wird versucht bezüglich Überwachungsbett zu erreiche, RTW (Anm: Rettungswagen) wird mehrmals abgewimmelt, da alle bettenplätze belegt ... /9
...Nachdem sich die Bettengestaltung daher massiv verzögern wird, wird NEF (Anm: Notarzteinsatzfahrzeug) nachbeordert. ... LST wird durch NEF LEnker nochmals telefonisch bezüglich Überwachungsbett kontaktiert. ... Patient wird in der langen Wartezeit für Zielspital weiter..." Usw. usf. /10
Jetzt ist der 67jährige ohne bekannte Vorerkrankungen also auf unserer Notfall, mit HFNC am Anschlag, alle NIV-Betten belegt, alle unsere ICU-Betten belegt außer das einzige Notfallbett fürs ganze Spital. ->Trotz HFNC am Anschlag Aufnahme auf unsere Normalstation. /11
Hoffen darf man. Dass sich aber angesichts so einer Lunge durch ein bisschen Cortison keine rasche Verbesserung erreichen lässt, überrascht nicht. Über Nacht weitere langsame Verschlechterung. In der Früh Entscheidung, das Notfallbett zu "opfern". Verlegung auf die ICU. /12
Fast gleichzeitig Anfrage der Pulmo, 57jähriger Mann mit Vorerkrankungen, noch an HFNC, rasche Verschlechterung, deren eigene Überwachungsstation brettlvoll. Sorry, Pulmo, müssts in einem anderen Spital suchen. /13
Das ist der Bericht aus einem einzigen Spital. An einem Tag, als in Wien netto 13 zusätzliche COV+ ICU-Betten belegt wurden. Nur eines davon bei uns. Ich will mir gar nicht ausmalen, was in einigen anderen Spitälern los war. /14
Kann sein, dass mein Arbeitgeber unglücklich über meine Schilderung ist (wäre unnötig, denn der Gesundheitsverbund macht in dieser Krise einen großartigen Job, an ihm liegt es nicht). Kann sein, dass mir wer Preisgabe von Pat.details vorwirft. /15
Aber man kann nicht ruhig zusehen, wie wir nur mehr einen kleinen Schritt von London Dezember 2020 entfernt sind. Während über "kluge Öffnungen" gesprochen wird und jeden 2.Samstag Coronaleugner durch Wien ziehen, bricht die Intensivversorgung gerade zusammen. /16
Wer will kann mir jetzt #Panikmache vorwerfen. Geschenkt. Wer aber wieder mit irgendwelchen Grafiken kommt, laut denen nur 30% oder 40% der Intensivbetten belegt wären, wird kommentarlos geblockt. Schluss jetzt. /17

Was danach geschah

Schon wenige Minuten nach dem Absenden des Threads trudelten die ersten Replys ein. Ich erhielt Antworten von Ärztinnen und Ärzten aus dem ganzen deutschsprachigen Raum ("Bei uns geht es ähnlich schlimm zu. Danke für den Mut, damit an die Öffentlichkeit zu gehen."). Kolleg:innen aus anderen Bundesländern fragten mich, ob ich keine Angst hätte, so was zu schreiben, denn bei ihnen (v.a. in Niederösterreich) gebe es einen Maulkorberlass. Mein pensionierter ehemaliger Chef gratulierte mir via Facebook (wo ich nie einen Account hatte).

Während ich mich zuhause nicht vom Dienst erholte, war der Thread schon das Thema in der montäglichen Primarärztesitzung. Einer fragte die Runde, was man als Sanktion gegen mich tun solle. Die stellvertretende Direktorin stellte sich darauf vehement auf meine Seite. Der Primar der Lungenheilkunde meinte trocken: "Er hat doch eh nur geschrieben, was wir alle täglich intern sagen."

Es erschienen Artikel in den österreichischen Tageszeitungen vom Standard "Dramatische Schilderungen" bis zu OE24: "Ein Spitalsarzt schlägt Alarm." Gleichzeitig trudelte eine Medienanfrage nach der anderen ein. Ich kontaktierte die Pressestelle meines Arbeitgebers und wurde direkt an den obersten Pressesprecher verbunden, der einigermaßen genervt war. Er hatte sich den Arbeitstag wohl anders vorgestellt. Ich erhielt keinen Maulkorb, mir wurde aber nahegelegt, keine Medienanfragen anzunehmen. Das war auch okay für mich. Das, was auf mich da niederprasselte, war auch so schon heftig genug. Die Einladung zur ZiB2 bei Armin Wolf wäre allerdings schon reizvoll gewesen. Andererseits: Wer weiß, ob ich überhaupt ein Wort herausgebracht hätte vor lauter Nervosität.

In der Folge bestätigten weit berufenere Personen die katastrophale Lage in Wien Spitälern. Intensivmediziner Thomas Staudinger von der Wiener Uniklinik sah "in Ostösterreich die Krankenhäuser eigentlich schon über die Grenze hinaus mit Coronakranken belastet. Im intensivmedizinischen Bereich haben wir fast nichts anderes mehr zu tun als Coronainfizierte zu behandeln.“ Er bezeichnete die Situation als einen "Super-Gau für das Personal".

Am 24.März beschlossen die ostösterreichischen Bundesländer Wien, Niederösterreich und Burgenland einen "Osterlockdown". Zwei prominente Journalist:innen schrieben mir, ob mir klar sei, dass mein Thread den Weg zu dieser Entscheidung angestoßen hätte. Die Coronademonstranten erfuhren das zum Glück nicht.

Und so führte ein Frustthread auf Twitter dazu, dass meine 15 Minuten des Ruhms daraus bestehen, dass ich offenbar mitverantwortlich für einen Lockdown bin.


P.S.: Der Sanitäter, der das verzweifelte Protokoll geschrieben hatte, meldete sich in den nächsten Tagen bei mir und bedankte sich. Er hatte gedacht, sein Protokoll würde eh wieder niemand lesen.

ÄFD: Ärztefunkdienst, RTW: Rettungswagen, NEF: Notarzteinsatzfahrzeug, NA: Notarzt,