Die Impfungen sind da, aber oft schwer zu kriegen

Die Impfungen sind da, aber oft schwer zu kriegen

Substack-Artikel vom 22.09.2023:

:: Die neuesten Abwasserdaten und ein Beispiel für die Intransparenzitis :: COVID-19 ist noch immer kein Schnupfen :: Impfempfehlungen in Ö und in D ::


Zur Infektionslage in Österreich kann ich dem vor etwas mehr als einer Woche im Artikel Eine nicht-saisonale Variantensuppe geschriebenen eigentlich nicht viel mehr hinzufügen. Die Lage hat laut dem nationalen Abwassermonitoring nichts an Dynamik verloren.

abwassermonitoring.at

Die Intransparenz der Abwasserdaten in Wien

Es gibt doch was hinzuzufügen. In seinem wie immer sehr informativen Seuchenkolumnen-Artikel Die österreichische Seuche: Intransparenzitis weist der Infektionsepidemiologe Robert Zangerle auf den Umstand hin, dass die Stadt Wien offenbar ein eigenes Abwassermonitoring durchführt. Die Zahlen des städtischen Monitorings unterscheiden sich beträchtlich von den für Wien erhobenen Zahlen des nationalen Monitorings. Zumindest taten sie das Anfang September. Wie es jetzt ausschaut, bleibt uns Normalbürgern nämlich verborgen.

Denn wenn nicht gerade der Pressesprecher des Wiener Gesundheitsstadtrates auf X/Twitter eine Grafik des CSI Abwasser verbreitet, um zu zeigen, dass in Wien die Zahlen zurückgehen würden, haben wir keinen Zugang zu den Daten. Intransparenzitis eben. Ebenso fehlt eine Erklärung dafür, warum sich die aus dem gesamten Abwasser der Stadt in der zentralen Kläranlage Simmering erhobenen Werte der TU Wien (städtisches Monitoring) offenbar signifikant von den aus dem Abwasser derselben zentralen Kläranlage erhobenen Werte der MedUni Innsbruck (nationales Monitoring) unterscheiden.

So oder so: Der rein subjektive Eindruck im Spital genauso wie die Zahl der COVID- bzw. “Sommergrippe”-Fälle im Gesundheitspersonal, beim Lehrpersonal meiner Töchter und im Bekanntenkreis deutet nicht unbedingt auf eine abnehmende Infektionsdynamik hin.


Egal wie oft es behauptet wird: COVID-19 ist kein Schnupfen

Ja, ich wiederhole mich. COVID-19 ist nicht einfach ein Schnupfen oder eine Verkühlung (“Erkältung” für die deutschen Leser), auch wenn es sich für viele Infizierte glücklicherweise so anfühlen mag. Man kann es nicht oft genug betonen. Erst recht wenn zum Beispiel im öffentlich-rechtlichen ORF (nicht etwa auf ServusTV) eine Doku eines der prominentesten österreichischen TV-Journalisten mit dem Titel “Die verschwundene Seuche” ausgestrahlt wird und er auf X/Twitter auf fachliche Kritik ebenso dünnhäutig wie faktenfremd reagiert. In einem Artikel bei coronafakten.com wird detailreich auf die Doku eingegangen.

COVID-19 hat nicht mehr die Wucht der ersten Zeit, als das Gesundheitssystem trotz aller Maßnahmen aufgrund der enormen Zahl an schwer erkrankten Infizierten am Kollabieren war und Österreich im November 2020 die weltweit größte Zahl an Todesfällen relativ zur Bevölkerung hatte. Vielleicht kann man das schon als Normalisierung bezeichnen. Dank Impfungen und auch frühere Infektionen sowie auch durch eine geringere Pathogenität der jetzigen Varianten im Vergleich v.a. zu Delta sind die Verläufe im Durchschnitt leichter.

Wie viele Personen jetzt noch so schwere Verläufe der akuten Infektionen haben, dass sie stationär aufgenommen werden, wissen wir mangels Meldepflicht nicht mehr. Das SARI-Dashboard bietet aber immerhin einen ungefähren Überblick, auch wenn die wahren Zahlen sicherlich unterschätzt werden. (Sie beruhen auf den von den Spitälern übermittelten ICD-Codes, sind damit deutlich zeitverzögert, PCR-Nachweis erfolgt nur mehr dann, wenn ein Arzt daran denkt, was tatsächlich selbst bei klarer Symptomatik nicht immer passiert, und aus der täglichen Praxis weiß ich, wie die Kodierung erfolgt. Die wenigsten von uns Ärzt:innen sehen Kodierungen als ihre Lieblingsaufgabe. Ich auch nicht.)

SARI-Dashboard. (Anm.: Die schwarzen Balken sind ganz offiziell unvollständig, aber auch bei den zwei bis drei Wochen vorher wird es noch zu einigen Nachmeldungen kommen.)

Das ist wenig im Vergleich zu manchen früheren Wellen, aber einen Schnupfen, der in einer Woche zur Hospitalisierung von 200 Leuten führt, muss man erst finden.

Dazu kommen die indirekten Folgen - von Long Covid bis zu allerlei neurologischen, kardiovaskulären und autoimmunologischen Folgekrankheiten. Darauf bin ich schon mehrmals eingegangen, zuletzt hier ("Wenige schwere Verläufe und trotzdem nicht harmlos").

COVID-19 ist und bleibt eine gefährliche Krankheit auf individueller Ebene, aber auch sehr belastend für das so und so schon angeschlagene Gesundheitswesen und auch für die Gesellschaft als Ganzes. In seinem großartigen “Kommentar der anderen” im Standard ("Wieder unvorbereitet in den Corona-Herbst") beschreibt das der Gesundheitsökonom Thomas Czypionka so:

Und der weiter oben schon erwähnte Robert Zangerle stellt in seinem Artikel “Corona kommt nicht wieder. Nicht nötig. Es ist noch da!” folgendes fest:


Die Impfungen sind da…

Bereits Anfang des Monats teilte das Gesundheitsministerium die neuen Impfempfehlungen des Nationalen Impfgremiums in den Grundzügen mit und kündigte die baldige Auslieferung der Impfstoffe an. Mehr dazu hier:

Der angepasste Herbstbooster kommt und wird allen ab 12 Jahren empfohlen (in Österreich)
:: Das Nationale Impfgremium hat eine klare Empfehlung ausgesprochen :: Auslieferung des Impfstoffes bereits ab nächster Woche :: Als Extra: Eine Studie über die Wirkdauer der Impfungen

Die detaillierten Impfempfehlungen sind hier als zu lesen (pdf-Datei).

In den USA gibt es eine dezidierte Impfempfehlung der CDC für alle Personen ab dem Alter von 6 Monaten. In Österreich wird die etwas umständlich so formuliert:

Anders entschied bekanntlich die deutsche STIKO, die den Booster im Wesentlichen Personen über 60 Jahren sowie unter 60Jährigen mit einem hohen Risiko eines schweren Verlaufes empfiehlt. Selbst die Grundimmunisierung wird nur ab 18 Jahren empfohlen. Begründet wird das so:

Ich weiß nicht, wie es in Deutschland ist, aber in Österreich wurden zumindest seit Anfang Mai mehr Kinder unter 5 Jahren (pro 100.000) wegen COVID-19 stationär aufgenommen als Personen von 60 bis 69.

Zur Frage, wie oft Long Covid bei Kindern und Jugendlichen auftritt, gibt es noch weniger eindeutige Zahlen als bei Erwachsenen. In zwei rezenten systematischen Studien (hier und hier) hatten rund 15% noch nach Monaten anhaltende Symptome. Selbst wenn diese Zahlen zu hoch geschätzt sein sollten, sind es nicht wenige Betroffene. Bei ME/CFS, bei dem COVID-19 einer der potentiellen Auslöser sein kann, sind die 10-20Jährigen sogar besonders häufig betroffen, wie zum Beispiel diese Grafik einer norwegischen Studie (noch vor COVID-19) zeigt:

Aber was ist mit den Impfnebenwirkungen wie der von der STIKO angeführten Myokarditis, die bei Jugendlichen vor allem nach der zweiten Impfung gehäuft auftrat, wenn auch seltener und meist milder verlaufend als nach der Infektion? In ihrem Blog

Your Local Epidemiologist berichtet Katelyn Jetelina von Daten der CDC. Nach den bivalenten Booster letzten Herbst traten in den USA bei 650.000 untersuchten Impfungen 2 Fälle von Myokarditis auf, davon kein einziger bei Jugendlichen.

Ich weiß nicht wie die STIKO zu ihrer Nutzen/Risiko-Analyse kommt. Wie Michael Osterholm, einer der weltweit führenden Infektionsepidemiologen, im Podcast The Osterholm Update leidenschaftlich die COVID-Impfung für Kinder begründet, könnt ihr jedenfalls ab Minute 29 von Folge 140 hören.

Wahrscheinlich hat auch hier Robert Zangerle recht, der vermutet, dass die Empfehlungen der STIKO auf Kostenüberlegungen beruhen.

Eine wirtschaftliche Kosten/Nutzen-Abwägung (im Gegensatz zur medizinischen Nutzen/Risiko-Abwägung des ursprünglichen Konzepts der evidenzbasierten Medizin) ist in den angelsächsischen Ländern schon länger üblich. Kein Zufall, dass auch in UK die Booster-Impfungen erst ab 60 empfohlen werden. Da ist es dann besonders praktisch, dass Long Covid unterdiagnostiziert ist und von den Krankenkassen oft nicht anerkannt wird.


… aber die Impfungen sind oft schwer zu kriegen

In Österreich haben wir dieses Problem wie gesagt (noch) nicht. Die Impfungen sind kostenlos und zwar für alle ab 6 Monaten. Bei uns wird das mit der Kostenersparnis durch die Hintertür gemacht. Wer sich trotz monatelanger medialer und politischer COVID-19-Verharmlosung und überproportionalen Berichten über Impfnebenwirkungen immer noch impfen lassen möchte, muss sich auf die Suche nach einer Impfmöglichkeit machen.

Die sowohl von Pfizer/BioNTech als auch von Moderna angebotenen Einzeldurchstichflaschen wird es bei uns nicht geben. Man kauft weiterhin die Fläschchen mit 6 Impfstoffdosen. Das bedeutet, dass es weiterhin nicht möglich ist, den Impfstoff einfach selbst in der Apotheke zu holen und sich vom Arzt/der Ärztin verabreichen zu lassen (wie z.B. beim Influenzaimpfstoff). Und es erhöht den logistischen Aufwand für die Ordinationen beträchtlich.

Zudem wurden die Impfstraßen allerorts inzwischen abgebaut. Nachvollziehbar in den ländlichen Gegenden, aber selbst in Wien blieb von den schon vor der Pandemie für die Influenza-Impfungen eingerichteten Impfzentren nur ein einziges übrig, dessen Termine folglich bis Ende Oktober schon restlos ausgebucht sind.

Auf dem offiziellen Impfportal wird man zu den Impfmöglichkeiten der einzelnen Bundesländer weitergeleitet. Aber zahlreiche Personen berichten in den social Media über den großen organisatorischen Aufwand und am Land über beträchtliche Fahrtstrecken, um eine Impfung zu bekommen. Wer die Einstufung von Bundeskanzler Nehammer von Österreich als Autonation nicht beherzigt oder einfach zu alt und/oder zu krank für Autofahrten ist, hat es besonders schwer.

Für die Großstadt Wien hat die Ärztekammer eine Liste von “Impfordinationen” (pdf). Aber auch hier berichten viele Leute von langen Wartezeiten auf einen Termin und auch von Ordinationen, die keinen Impfstoff bekommen haben. Andererseits habe ich bei unserer Familienhausärztin nach einem kurzen Anruf einen Impftermin für meine beiden Töchter und mich in einer Woche bekommen. Dabei scheint sie gar nicht als Impfordination auf.

Jedenfalls können wir davon ausgehen, dass all das dazu führt, dass sich entgegen der Impfempfehlungen nur recht wenige Menschen boostern lassen werden, auch und vor allem bei den Hochrisikopersonen.


Leseempfehlungen

Den Kommentar von Thomas Czypionka "Wieder unvorbereitet in den Corona-Herbst" habe ich schon weiter oben empfohlen. Lest ihn euch durch! Beeindruckend wie viele wichtige Punkte er verständlich in so wenig Absätzen unterbringt. Als jemand, der jedesmal damit kämpft, dass die Blogartikel nicht allzu ausufernd werden, bin ich zugegebenermaßen etwas neidisch.

Das British Medical Journal berichtet im Artikel Long covid: the doctors’ lives destroyed by an illness they caught while doing their jobs über von Long Covid betroffene Ärzt:innen in UK, die nun krank und arbeitsunfähig vor dem finanziellen Ruin stehen und ihren Kampf um die Anerkennung als Berufskrankheit, nachdem sie trotz völlig unzureichender Schutzvorrichtungen weiter gearbeitet hatten.

I feel completely let down by the NHS. I told my GP that we’ve just been left to rot. As doctors, we are people who hardly ever take any sick days—we’re more likely to say we’re fine and go back to work—as we’re very driven people. We have been badly let down.

Ich fühle mich vom NHS völlig im Stich gelassen. Ich habe meinem Hausarzt gesagt, dass man uns einfach verrotten lässt. Als Ärzte sind wir Menschen, die sich fast nie krankschreiben lassen - wir sagen eher, dass es uns gut geht, und gehen wieder an die Arbeit -, denn wir sind sehr motivierte Menschen. Wir sind schwer im Stich gelassen worden.
Last winter we couldn’t afford to heat the house properly—we had frost on the inside of our windows. We limited our heating and hot water to 30 minutes a day so my daughter could have a bath. We faced selling our house and relied on various extended family members to support us financially, including my 98 year old granny. If it wasn’t for her, we would have been homeless and bankrupt within three months.

Im letzten Winter konnten wir es uns nicht leisten, das Haus richtig zu heizen - wir hatten Frost an den Innenseiten unserer Fenster. Wir beschränkten unsere Heizung und das heiße Wasser auf 30 Minuten am Tag, damit meine Tochter ein Bad nehmen konnte. Wir standen kurz davor, unser Haus zu verkaufen, und verließen uns auf verschiedene Familienmitglieder, die uns finanziell unterstützten, darunter meine 98 Jahre alte Oma. Wenn sie nicht gewesen wäre, wären wir innerhalb von drei Monaten obdachlos und bankrott gewesen.