Eine nicht-saisonale Variantensuppe

Eine nicht-saisonale Variantensuppe

Substack-Artikel vom 13.09.2023:

:: Eine Sommerwelle ohne führende Variante :: Nur mehr wenige schwere Verläufe und trotzdem nicht harmlos :: Update zum offenen Brief ::


Die aktuelle Lage in Österreich

Im österreichischen Abwassermonitoring steigt die Zahl der Virusgenkopien weiter an, könnte aber gerade etwas an Dynamik verlieren. Oder ist es nur eine Pause zwischen dem Ende der aus dem Urlaub nachhause gebrachten Infektionen und den beginnenden Folgen des Schulbeginns (letzte Woche in Ostösterreich, diese Woche in Westösterreich)?

Dass wir uns in einer anderen Phase finden als in den ersten Jahren der Pandemie, zeigt schon der Umstand, dass es sich um keine exponentiellen Anstiege mehr handelt (ihr erinnert euch). Der Anstieg ist jetzt maximal linear.

Anm. 14.09.23: Aufmerksame Leser haben den obigen Satz - wahrscheinlich zurecht - als unzulässige Verknappung kritisiert und mir erklärt, wie das mit exponentiell und linear mathematisch und infektionsepidemiologisch ist. Das hatte ich nach dreieinhalb Pandemie dringend nötig. ;-) Eigentlich wollte ich aber nur auf 2020 bis zu Beginn Omikron hinweisen, als wir mit logarithmischen Skalen hantierten, um den Anstieg der Infektionen besser darzustellen, und als wir verblüfften Politikern erklären mussten, warum es innerhalb einer Woche von “einige Fälle” zu “Spitäler am Anschlag” kommen konnte. Das brauchen wir nicht mehr, momentan lässt sich der Anstieg linear darstellen, was ich im Vergleich zu früheren Zeiten dann doch als Fortschritt empfinde.


Eine nicht-saisonale Variantensuppe

Aus welchen Virusvarianten die derzeitige Welle sich zusammensetzt wird aufgrund der geringen Zahl an sequenzierten Proben in Österreich nur sehr ungenau erfasst. Die damit beauftragte AGES hat die Ergebnisse der letzten Wochen trotzdem auf ihrer Webseite zusammengefasst.

Weltweit schaut es laut dem letzten wöchentlichen epidemiologischen Update der WHO, das trotz seines Namens auch schon wieder zwei Wochen alt ist, so aus:

Die wichtigsten Punkte: Keine Variante hat derzeit einen so großen Vorteil gegenüber den anderen Varianten, dass sie die Konkurrenten ausstechen würde. Der Anteil an EG.5*, das laut Labordaten dem Immunsystem besser entkommen sollte als frühere Omikron-Varianten, nimmt zwar zu, ist aber in seiner Fitness offenbar nicht vergleichbar mit früheren Problemvarianten.

Der allerwichtigste Punkt: Der upgedatete XBB.1.5-Impfstoff bietet gegen alle derzeit zirkulierenden Varianten einen guten Schutz. Bis der Impfstoff ausgeliefert wird, sollte es wirklich nur mehr wenige Tage dauern.

Noch immer selten - in Österreich bisher kein einziges Mal nachgewiesen - ist BA.2.86. Diese Variante wird von den Virolog:innen besonders genau beobachtet. Sie unterscheidet sich von den bisherigen Varianten noch stärker als das ursprüngliche Omikron von Delta und sie tauchte in mehreren Ländern gleichzeitig auf. Beides Hinweise für das Potential, dem Immunsystem besonders gut zu entkommen und so eine große neue Welle hervorzurufen. Aber offenbar erkauft sie sich diese Immunflucht durch geringere Infektiösität. Der Alarm scheint verfrüht gewesen zu sein. Eine Seltenheit in dieser Pandemie.

Vielleicht ist die Variantensuppe auch ein gutes Zeichen. Manche Virolog:innen sehen sie als Hinweis, dass es dem Virus zunehmend schwerer fällt, Löcher in der Immunitätswand zu finden, die durch die Impfungen und auch durch frühere Infektionen aufgebaut wurde.

Andererseits zeigt das Auftauchen von BA.2.86, dass SARS-CoV-2 uns weiterhin überraschen kann. BA.2.86 wird nicht zur nächsten großen Welle führen, aber wer weiß, was sich aus dieser Variante noch weiter entwickeln wird. Zu oft lagen optimistische Virologen völlig daneben. Zur Erinnerung: Manche prognostizierten im Mai 2020, es werde keine zweite Welle geben. Inzwischen finden wir uns in der neunten COVID-Welle.

Viel weniger Unsicherheiten als bei der Prognosen zu den Varianten gibt es bei der Nicht-Saisonalität von COVID-19. Egal was manche Medien und Experten verlautbaren: Es gibt bisher keine Saisonalität. Findet jemand bei den Hospitalisierungszahlen von drei völlig verschiedenen Ländern der nördlichen Hemisphäre - USA, Japan und small little Austria - eine echte Saisonalität?

Wenn sich das Leben in die Innenräume verlagert, kommt es eher zu Infektionen. Natürlich. Aber dieser Effekt ist ganz offensichtlich nicht so groß, dass es bisher zu einer echten Saisonalität gekommen wäre. Wir erleben stattdessen eine Welle nach der anderen, recht unabhängig von den Außentemperaturen.

Das ist nicht ganz neu (Artikel “Die neue Normalität: eine andauernde Abfolge von COVID-19-Wellen statt einer saisonalen Infektionskrankheit”). Wer sich mehr für die Gründe dieser Nicht-Saisonalität interessiert, sollte den Artikel von Adam Kucharski in seinem Blog Understanding the unseen lesen: “Is COVID now a ‘winter virus’?

Die Nicht-Saisonalität hat auch Auswirkungen auf die Impfempfehlungen wie Michael Osterholm in seinem Podcast Osterholm Update erläutert:

I do not yet see any evidence of seasonality, and therefore I keep raising that because I still am very concerned about the FDA's approach to making this an annual fall seasonal virus vaccine approach. I think that's just dead wrong. I think we need to be looking at boosters potentially every six months to keep up with the variants and to also deal with the waning human immunity. Now, some will say, well, that's crazy. Nobody's going to take a vaccine every six months. And that may be true. That is largely going to be true, in fact. But for those who are at increased risk, you at least give them another tool to help protect themselves.

Ich sehe noch keine Anzeichen für eine saisonale Abhängigkeit, und deshalb spreche ich das immer wieder an, weil ich immer noch sehr besorgt über den Ansatz der FDA von einmal jährlichen saisonalen Herbstimpfungen bin. Ich halte das für völlig falsch. Ich denke, dass wir möglicherweise alle sechs Monate Auffrischungsimpfungen in Betracht ziehen sollten, um mit den Varianten Schritt zu halten und auch mit der nachlassenden menschlichen Immunität umzugehen. Nun werden einige sagen, das ist doch verrückt. Niemand wird sich alle sechs Monate impfen lassen. Und das mag wahr sein. Das wird in der Tat weitgehend zutreffen. Aber für diejenigen, die einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, denen gibt man zumindest ein weiteres Mittel an die Hand, um sich zu schützen.

Wenige schwere Verläufe und trotzdem nicht harmlos

Etwas hat sich aber eindeutig geändert: Die jetzige Welle und zuvor auch die im Frühling ist keine Welle mehr wie in früheren Zeiten, was die schweren Erkrankungen betrifft. Im Spital haben wir zwar stationäre Aufnahmen wegen COVID-19, aber mit früheren Wellen ist es nicht mehr zu vergleichen. COVID-19 spielt sich aktuell nicht mehr in den Spitälern ab, sondern großteils zuhause. Und weil glücklicherweise kaum mehr Tote durch die Akuterkrankung und fast gar keine Aufnahmen auf Intensivstationen zu verzeichnen sind, lässt sich das Framing der “harmlosen Erkrankung” recht leicht verbreiten.

Die Langzeitfolgen von COVID-19 mit Long Covid weiterhin bei bis zu 10% der Infizierten sowie die statistische Häufung an Folgeerkrankungen wie unter anderem Herzinfarkt, Diabetes und einer Reihe an neurologischen Erkrankungen sieht man nicht, außer man schaut genau hin (Artikel: Mitten in der neuesten Welle: Ein Blick auf die Langzeitfolgen von COVID-19). Beides tritt nicht nur nach der ersten Infektion auf, das kumulative Risiko von Folgeerkrankungen steigt mit jeder Reinfektion (Artikel: Was passiert, wenn man wiederholt an COVID-19 erkrankt?). Das ist es, was sich in Wirklichkeit hinter den im Abwasser bestimmten Virusbestandteilen verbirgt.

Spannend in diesem Zusammenhang ist das Podcastinterview das Eric Topol in seinem Blog Ground Truths mit Ziyad Al-Aly geführt hat (Ziyad Al-Aly: Illuminating Long Covid). Al-Aly ist einer der Hauptautoren einiger der wichtigsten Studien über die Auswirkungen von wiederholten COVID-19-Infektionen. Er sagt unter anderem:

So basically if you have two people who have equal characteristics at baseline, everything equal, they had a first infection, one protected himself or herself from getting a second infection and the other one did not and then got a second infection. What are the outcomes in the person who did not get a second infection versus a person who got a second infection? And the results are very, very clear that a second infection or reinfection is consequential. It adds or contributes additional risks both in the acute phase, it can put even reinfection can put people in the hospital, can also result in some death that's very, very clear in our data and is very clear in other data as well and can also contribute risk of long. So I think the best interpretation for this is that for people to think that two infections are worse than one and three are worse than two.

Wenn man also zwei Personen mit den gleichen Merkmalen zu Beginn der Studie hat, bei denen alles gleich ist, die beide eine erste Infektion hatten, die eine Person sich vor einer zweiten Infektion geschützt hat und die andere nicht und dann eine zweite Infektion bekam. Wie sind die Ergebnisse bei der Person, die keine zweite Infektion bekam, im Vergleich zu der Person, die eine zweite Infektion bekam? Die Ergebnisse zeigen ganz klar, dass eine Reinfektion Folgen hat. Sie bringt zusätzliche Risiken mit sich, sowohl in der akuten Phase, sie kann sogar dazu führen, dass Menschen ins Krankenhaus kommen, sie kann auch zum Tod führen, was in unseren Daten sehr deutlich wird und auch in Daten anderer sehr deutlich wird, und sie kann auch das Risiko von Long Covid erhöhen. Ich denke also, die beste Interpretation ist, dass zwei Infektionen schlimmer sind als eine und drei schlimmer als zwei,.

Anmerkungen zum offenen Brief an die Ärztekammer

Die Evidenz ist groß, aber das Wissen darüber ist nicht sehr weit verbreitet. Nicht in der Bevölkerung, auch nicht in der Ärzteschaft und nicht einmal bei allen Experten, die in den Medien zu COVID-19 und den Folgen befragt werden. Das sind die Gründe, warum einige Ärzt:innen sich in einem offenen Brief an die Ärztekammer gewandt haben, mit dem Wunsch nach Information, Schulung und Infektionsschutz vor allem für die Vulnerabelsten in den Gesundheitseinrichtungen .

Wir wünschen uns: Lufthygiene und Masken im Gesundheitswesen, Aufklärung der Bevölkerung und Schulung des Gesundheitspersonals
:: Ein offener Brief von Ärzt:innen an die österreichische Ärztekammer ::

Darüber berichteten nationale Medien wie der Standard, aber auch in Deutschland gab es vereinzelt Berichte darüber. Und dank Ruth Ann Crystal MD gelangte der offene Brief bis nach Kalifornien. Thanks, Ruth!

Wer nicht darauf reagierte, war die Ärztekammer. Bis auf dieses magere Statement von Vizepräsident Harald Mayer in den Salzburger Nachrichten:

Ärztekammer-Vizepräsident Mayer zeigte sich am Dienstag am Rande einer Pressekonferenz zu dem an die Wiener Ärztekammer adressierten Offenen Brief zurückhaltend. Man werde das Thema als Standesvertreter im Herbst verfolgen, aber jetzt keinen Standpunkt abgeben, sagte er.

Weniger wortkarg ist Mitunterzeichner Arschang Valipour, Primar der Lungenheilkunde der Klinik Floridsdorf in Wien. Er erklärt in einem sehr lesenswerten Thread auf Twitter / X seine Beweggründe, den Brief zu unterzeichnen. Hier via Threadreader trackerfrei zu lesen.

Wichtig: Es geht nicht nur um COVID-19, wie uns Kritiker, die den Brief offenbar gar nicht gelesen haben, in den Leserkommentaren zu den Medienberichten vorwerfen (“Wann hört ihr endlich mit eurer Panik vor diesem Schnupfenvirus auf?”). Es geht um den Schutz von kranken Menschen vor gefährlichen, über die Luft übertragene Infektionen wie Influenza, RSV und eben auch COVID-19. Um Schnupfen geht es tatsächlich nicht.