Eine Sommerwelle

Laut den Abwasserdaten baut sich derzeit eine Sommerwelle auf. Ein Blick auf die zugrundeliegende Variantensuppe.

Eine Sommerwelle

Die wichtigsten Punkte auf einen Blick

  • Die Infektionszahlen laut Abwassermonitoring steigen deutlich an, im Spital merken wir bisher kaum etwas davon.
  • Im steten Widerstreit zwischen Virus und Immunitätswand kommt es zu einer immer rascheren Abfolge neuer Virusvarianten, mit immer eigenartigeren Namen. Zuletzt FLiRT und FLuQE.
  • Die Antigentests sind schon seit Omikron zu Symptombeginn häufig falsch negativ. Bei COVID-19-Verdacht empfiehlt sich ein nochmaliges Testen nach 2-4 Tagen.
  • Dafür, dass es nun häufiger zu COVID-bedingten Durchfällen kommen würde, gibt es keine echten Belege.
  • Die Langzeitfolgen von (wiederholten) Infektionen bleiben der wenig beachtete Elephant in the room.

Die derzeitige COVID-Lage

In Österreich zeigt das Abwassermonitoring seit einigen Wochen einen exponentiellen Anstieg, der aktuell etwas höher ist als vor einem Jahr im Juli 2023:

Die Abwasserdaten für Österreich und Wien seit Beginn des Monitorings bis heute. Quelle: https://abwassermonitoring.at/dashboard/

Auffallend ist, dass sich das bei uns bisher kaum bis gar nicht in den Spitälern widerspiegelt. Das SARI-Monitoring (SARI = Schwere Akute Respiratorische Infektionen) lässt allenfalls einen minimalen Anstieg der stationären Aufnahmen Ende Juni erahnen (die jeweils letzten zwei Wochen können wegen Verzögerungen bei den Meldungen nicht bewertet werden):

Quelle https://www.sari-dashboard.at/

Das entspricht dem, was wir im Spital anhand unseres kleinen, nicht repräsentativen Ausschnittes in den letzten Wochen sehen. Es gibt immer wieder COVID-Aufnahmen, aber keine echte Häufung. Wir sehen also bei uns eine Welle bei den Abwasserdaten, aber nicht bei den Spitalsaufnahmen. Woran das liegt, ist reine Spekulation. Vielleicht bietet die hierzulande besonders hohe Winterwelle noch einen relativen Schutz.

In zahlreichen Ländern und Regionen der Nordhalbkugel schaut das aber bereits etwas anders aus. In Großbritannien wurde im Juni die dritthöchste Zahl an stationären Aufnahmen wegen COVID-19 seit einem Jahr verzeichnet:

Quelle: https://christinapagel.substack.com/p/is-the-current-covid-wave-in-england

In den USA steigen Besuche der Notfallabteilungen und Hospitalisierungen wegen COVID-19 gerade deutlich an. Die folgende Grafik der CDC zeigt die USA als gesamtes, wobei manche Staaten derzeit nur eine geringe COVID-19-Aktivität aufweisen, während z.B. die Hospitalisierungsrate in Kalifornien mit 6,4 pro 100.000 Einwohnern mehr als dreimal so hoch ist wie im Landesdurchschnitt.

Quelle: https://covid.cdc.gov/covid-data-tracker/index.html#datatracker-home

Eine auffallend hohe COVID-19-Aktivität wird derzeit auch aus Italien und aus Spanien berichtet, vor allem aus den Tourismusgebieten in Katalonien und aus Mallorca, wo zahlreiche Touristen medizinisch versorgt werden mussten. Und das im Juli. Es zeigt sich zum wiederholten Mal: COVID-19 ist keine saisonale Infektionskrankheit. Das war im Mai 2023 schon klar ("Die neue Normalität: eine andauernde Abfolge von COVID-19-Wellen statt einer saisonalen Infektionskrankheit") und zeigt sich jetzt wieder.


Gründe für eine Welle, selbst im Sommer

Wir erleben einen ständigen Wettlauf zwischen dem kollektiven Immunsystem der Bevölkerung - der Immunitätswand - und dem mutationsfreudigen SARS-CoV-2-Virus. Wie viele Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt infiziert sind, hängt davon ab, wie viele Gelegenheiten zur Infektion das Virus bekommt. Das ist Evolution im Zeitraffer.

Durch die Impfungen und auch frühere Infektionen baut das Immunsystem einen mehr oder weniger starken Schutz vor Erkrankungen auf. Durch zufällig auftretende Virusmutationen können aber immer neue Varianten entstehen, die das Immunsystem weniger gut bekämpfen kann. Diese Immunflucht bietet einen Vorteil der neuen gegenüber früheren Varianten, sodass die neue Varianten sich leichter verbreiten können und die Oberhand gewinnen, bis sie so viele Menschen erwischt haben, die dann wiederum besser gegen die neue Variante geschützt sind, dass dieser Vorteil verloren geht. Das ist die Gelegenheit für wieder neue Varianten. Und so weiter.

Seit letztem Sommer beobachten wir zunehmend, dass sich nicht mehr wie in den ersten drei Jahren der Pandemie jeweils eine Hauptvariante durchsetzt, wie es bis Delta der Fall gewesen war. Das Variantenbild wird diverser und komplizierter. "Variantensuppe" nannte das jemand treffend - ich weiß leider nicht mehr, wer der Urheber des Begriffs war.

Prinzipiell ist das eine gute Nachricht. Es zeigt, dass sich das Virus immer schwerer tut, Lücken in der Immunitätswand zu finden. Der Variantenstammbaum fächert sich immer weiter auf, wie folgende Grafik des Nextstrain-Projektes zur Visualisierung der genetischen Entwicklung von Viren eindrücklich zeigt:

Quelle: https://nextstrain.org/ncov/gisaid/global/6m

Während Alpha (dunkelblau) und Delta (blau) offenbar noch relativ wenig Druck zur Diversifizierung hatten und auch Omikron in der Anfangszeit (türkis bis grün) und auch noch mit den XBB-Varianten des Sommers und Herbstes 2023 noch recht wenig auffächerte, explodierte die Zahl der Subvarianten mit dem Aufkommen von Pirola (rot) geradezu. SARS-CoV-2 suchte immer kleiner werdende Lücken in der Immunitätswand. Gleichzeitig wurde das Virus kaum mehr durch lästige Maßnahmen zur Eindämmung der Infektionszahlen gehemmt, sodass es im letzten Winter zu besonders vielen Infektionen kam, was im wiederum besonders viele Gelegenheiten bot sich weiterzuentwickeln. Das Ergebnis sehen wir rot ganz rechts in der Grafik.

Die Menge der von mir erwähnten Varianten scheint verwirrend? In Wirklichkeit ist das alles noch viel schlimmer. Folgende Grafik gibt einen echten Überblick über die Varianten - und zwar nur über die seit Pirola aufgetretenen:

Quelle https://x.com/dfocosi/status/1807054825978290298

Für Variantenjäger ist das vielleicht verständlich, für alle anderen gibt es zum Glück vereinfachte Darstellungen:

Die Variantensuppe 2024

Im Herbst und Winter bescherten uns BA.2.86 und seine direkten Abkömmlinge, v.a. JN.1 - gemeinsam "Pirola" bezeichnet - die zumindest laut Abwasserdaten bisher größte Welle der gesamten Pandemie ("Pirola und ihre Kinder übernehmen die Führung in der Welle"). Als die Zahlen in den Keller gingen nahm eine neue Variantengruppe die Führung - mit freiem Auge nicht zu erkennen ("Jetzt kommt FLiRT"). Kaum hatte diese Gruppe die Oberhand gewonnen, entstand schon wieder die nächste Variantengruppe, die aufgrund einer weiteren maßgeblichen Mutation FLuQE genannt wird. Diese Variantengruppe hat weltweit gerade die Führung übernommen.

Der relative Anteil von verschiedenen Variantengruppen in den weltweiten Virussequenzierungen seit Jänner 2024 . Rot: Pirola, blau: FLiRT, gelb: FLuQE. Quelle: Github-Datenbank von Mike Honey

Sequenzierungen von Proben infizierter Personen werden in Österreich - so wie fast überall auf der Welt - inzwischen viel zu wenige gemacht, um ein repräsentatives Bild zu erhalten. Aber wir haben immerhin Sequenzierungen aus den Abwasserproben, die ein ähnliches Bild zeigen. KP.3, der prominenteste Vertreter der FluQE-Gruppe, hat auch hierzulande in den letzten Wochen deutlich zugenommen, während die FLiRT-Variante KP.2 wieder abnimmt:

Virusvarianten in absoluten Zahlen anhand der Sequenzierungen aus dem Abwasser in Österreich. Quelle: https://zeitferne.github.io/covidat-tools/export/monitoring.html#Varianten

Aber was bedeutet das in der Praxis?

Pirola, FLiRT und FluQE - alles schön und gut. Aber hat das irgendetwas mit der Praxis zu tun? Verhalten sich diese Virusvarianten anders als die näheren oder ferneren Verwandten?

COVID-19-Tests

Immer wieder hört man, dass die in den Apotheken erhältlichen Schnelltests mit den neuen Varianten nicht mehr so zuverlässig seien. Das stimmt irgendwie, aber dann auch wieder nicht.

Tatsächlich nimmt die Zahl der falsch-negativen Resultate zu. Das liegt aber nicht an den neuen Varianten. Die Antigentests erkennen nämlich nicht das Spike-Protein, also die Oberflächenstruktur, die dem ständigen Wandel durch die Mutationen unterworfen ist, sondern das Nukleokapsid-Protein im Inneren des Virus. Und dieses ist sehr stabil, hat sich seit 2019 praktisch nicht verändert.

https://external-content.duckduckgo.com/iu/?u=https%3A%2F%2Ftse1.mm.bing.net%2Fth%3Fid%3DOIP.gs4EAQ5jhFl2p7zWiK1HoAHaEK%26pid%3DApi&f=1&ipt=fa7c6ab90ee694af7c01110b46867768fe0d502f97c512582b13d3b87d4b5ce5&ipo=images
Grafische Darstellung eines SARS-CoV-2-Virus. Quelle der Grafik: news-medical.net

Der Grund für die schlechtere Sensitivität der Tests hat nichts mit dem Virus selbst zu tun, sondern mit unserem Immunsystem. Und das ist im Grunde eine gute Nachricht.

In den ersten zwei Jahren der Pandemie lernten wir, dass die Infizierten schon vor Beginn der ersten Symptome eine hohe Virenlast aufweisen (die präsymptomatische Phase) und zu Symptombeginn am ansteckendsten sind - also genau dann, wenn die meisten Infizierten sich testen. Damals waren die meisten Infizierten aber noch immunnaiv, das heißt, sie hatten noch nie Kontakt mit dem Virus gehabt.

Seit der ersten Omikron-Welle gibt es aber fast niemanden mehr ohne Kontakt zum Virus und/oder der Impfung. Und das hat Auswirkungen auf die Infektionsdynamik. Das Immunsystem schlägt bei einer Infektion mit SARS-CoV-2 schneller an. Das bedeutet einerseits, dass die Inkubationszeit - also die Zeit zwischen der Ansteckung und den ersten Symptomen - kürzer geworden ist, aber auch dass die größte Virenmenge nicht mehr zu Symptombeginn, sondern erst ein paar Tage später gemessen wird. Zum Beispiel wurde dies in einer im Februar diesen Jahres publizierten Studie untersucht ("The New Normal: Delayed Peak SARS-CoV-2 Viral Loads Relative to Symptom Onset and Implications for COVID-19 Testing Programs"). Der höchste Virenload - gemessen anhand von PCR-Test der Nasenabstriche - trat hier erst drei bis vier Tage nach Symptombeginn auf.

Die Ct-Werte der Probanden im Zeitverlauf. Zur Erinnerung: Je niedriger der Ct-Wert, desto mehr Viren liegen vor.

Daraus lässt sich kalkulieren, dass bei Symptombeginn nur 30-60% der Infizierten einen positiven Antigentest haben, nach vier Tagen sind es dagegen 80-93%. Deshalb wird empfohlen, bei Verdacht auf eine COVID-19-Erkrankung im Falle eines negativen Schnelltests nach zwei und vier Tagen noch einmal zu testen. (Für die viel empfindlicheren PCR-Tests gilt dies nicht. Die sind auch am Tag 0 weiterhin äußerst zuverlässig. Siehe auch "Die Sache mit Antigentests bei Omikron".)

Die Symptome der Krankheit

Bei diesem Punkt begeben wir uns auf sehr unsicheres Terrain. In manchen Zeitungsberichten liest man von schwereren Symptomen als bei den früheren Omikron-Varianten. Andere berichten, dass COVID-19 nun mehr einer Lebensmittelvergiftung gleiche, mit Übelkeit und heftigen Durchfällen. Ich habe dazu nur anekdotische Berichte gelesen. Wissenschaftliche Aufarbeitungen dieses Themas habe ich keine gefunden. (Falls wer was kennt -> bitte unten einen Kommentar hinterlassen!)

Dass COVID-19 auch den Magen-Darm-Trakt betreffen kann, ist alles andere als neu. Es ging nur im Radar der Öffentlichkeit unter, weil wir alle uns auf die manchmal lebensbedrohliche Lungenentzündung konzentrierten. Der Darm ist häufig mitinfiziert. Er gilt sogar als ein potentielles Virusreservoir, und im Stuhl lassen sich das Virus bzw. dessen Bestandteile viel länger nachweisen als in der Nasen-Rachen-Schleimhaut.

Ein kleiner Exkurs: Dass der Darm der Hauptort des Geschehens sein kann, erfuhren wir im Spital bereits im März 2020. Ein älterer Herr wurde mit Durchfällen und heftigen Bauchschmerzen eingewiesen und auf einer internen Abteilung stationär aufgenommen. Bei auch nach mehreren Stunden anhaltenden Beschwerden meldeten die Kolleg*innen ein Akut-CT des Bauches an. Der Befund des Radiologen: Der Bauch ist radiologisch völlig unauffällig, aber die angeschnittenen Lungenbasen schauen aus wie das, was er über COVID-19 gelesen hat. Also sollte der Herr als COVID-Verdachtsfall auf meine Station verlegt werden. Nun, der Haustransport geriet in Panik und weigerte sich, den Mann noch einmal ins Auto zu laden (wir sind ein altes Spital im Pavillonsystem). Kurzerhand entschlossen eine Krankenpflegerin und ich uns, das halt selbst zu übernehmen. Wir zogen unsere Astronautenschutzkleidung an, packten eine Rollstuhl und holten den Patienten im anderen Pavillon über dem Hof ab. Dort empfing uns eine Krankenschwester mit schief sitzender OP-Maske, die unser Outfit mit weit aufgerissenen Augen betrachtete und dann fragte: "Und was passiert jetzt mit uns?" Ach, die guten alten Zeiten... Am nächsten Tag - ja, solange dauerte das damals - erhielten wir den positiven PCR-Befund, der Radiologe war richtig gelegen. Der Patient erholte sich bald und konnte nach einer Woche wieder nachhause.

Durchfälle bei COVID-19 sind jedenfalls nichts Neues und ich habe auch nicht den Eindruck, dass sie häufiger auftreten als früher.

Die Schwere der Symptome

Auch für das in manchen Berichten behauptete häufigere Auftreten schwerer Verläufe habe ich keine vertrauenswürdige Quelle gefunden. Jedenfalls deuten weder die Erfahrung bei uns im Spital noch die internationalen Zahlen der Aufnahmen auf Intensivstationen darauf hin, dass die aktuellen Varianten "schlimmer" wären als die der letzten Wellen.

Vermutlich bleibt es bei FLiRT und FLuQE so wie bei den Vorgängern. Für viele Infizierte fühlt sich COVID-19 tatsächlich nur mehr wie eine stärkere Erkältung an, für andere wie eine heftige Grippe, was schlimm genug ist. Schwere Verläufe kommen weiterhin vor, vor allem bei den Risikogruppen der alten und multimorbiden Personen sowie bei Immunsupprimierten sind aber insgesamt doch viel seltener als noch vor den Impfungen.

Die Langzeitfolgen

Dass die Infektion - besonders wiederholte Reinfektionen - auf längere Sicht was mit dem Körper anstellen kann - Stichwort Long Covid, wissen wir bereits seit 2020. Wir wissen, dass COVID-19 bei gar nicht so wenigen Personen zu länger dauernden Beschwerden führen kann. Bei manchen so stark, dass das Leben nie mehr so ist wie vorher. Wir wissen, dass COVID-19 das Risiko für zahlreiche weitere Krankheiten signifikant erhöhen kann. Von Herzinfarkten über Schlaganfälle bis zu Diabetes und Autoimmunerkrankungen. Und jede Reinfektion erhöht das Risiko noch weiter ("Was passiert, wenn man wiederholt an COVID-19 erkrankt?").

Meines Wissens nach gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass dieses Risiko mit den neuen Varianten verschwinden würde. Bisher nahm das relative Risiko für Long Covid nach einer Infektion aufgrund der besseren Immunität zwar ab, dafür steigt das kumulative Risiko durch wiederholte Infektionen alle ein bis zwei Jahre ("Über das Risiko einer Erkrankung an Long Covid").

Deshalb ist es meiner Meinung nach weiterhin sinnvoll, sich vor einer Infektion zu schützen. Durch Masken, Impfungen und nicht zuletzt durch Maßnahmen für saubere Luft in öffentlichen Innenräumen, wie sie zum Beispiel die Initiative Gesundes Österreich fordert.