Impfungen reduzieren das Risiko, an Long Covid zu erkranken
Substack-Artikel vom 23.06.2023:
Ein Blick auf drei neue Studien zum Thema
Im letzten Monat erschienen drei neue Studien, die mit einem jeweils gänzlich anderen Ansatz versuchten, der Frage nachzugehen, wie sehr Impfungen gegen SarsCov2 vor einer Erkrankung an Long Covid schützen.
Vorbemerkungen
Long Covid ist ein von Betroffenen selber geschaffener Begriff, der ein breites Feld an Symptomkomplexen umfassen kann (mehr dazu habe ich bei Long Covid und ME/CFS - Teil 1 geschrieben). Die Definition der WHO ist entsprechend allgemein gehalten:
Der Post-COVID-19-Zustand tritt bei Personen mit einer wahrscheinlichen oder bestätigten SARS-CoV-2-Infektion in der Anamnese auf, in der Regel drei Monate nach dem Auftreten von COVID-19 mit Symptomen, die mindestens zwei Monate lang anhalten und nicht durch eine andere Diagnose erklärt werden können.
Zwar wurde bereits eine große Zahl an körperlichen Veränderungen mit Pathologien bis auf die zelluläre Ebene gefunden, der eine Marker zur Diagnose von Long Covid fehlt allerdings. Long Covid bleibt in erster Linie ein Überbegriff für eine Reihe an Symptomkomplexen und somit in erster Linie eine klinische (= symptombasierte) Diagnose (mehr dazu in Long Covid und ME/CFS - Teil 2).
So sinnvoll dies für die Patienteninitiativen ist, die im Falle von Long Covid sehr aktiv sind, so schwierig ist die epidemiologische Forschung. Keine zwei Studien verwenden die exakt gleiche Definition.
Umso bedeutender scheint es, wenn verschiedene Studien mit sehr unterschiedlichen Studienansätzen und Long Covid-Definitionen zu ähnlichen Ergebnissen kommen, wie es bei den drei folgenden Studien der Fall ist.
Hinweise auf einen gewissen Schutz vor Long Covid gab es schon zuvor (siehe z.B. hier bei Long Covid und ME/CFS - Teil 6). Die drei nun vorgestellten Studien erhärten diese Hinweise.
Die Studie mit der ICD-10-Diagnose und einer durch Computer Learning erstellten Diagnose von Long Covid
Ende Mai erschien in Nature Communications eine Studie, in der gleich zwei Ansätze verwendet wurden. Aus einer großen US-Datenbank wurde zum einen die “offizielle” Diagnose von Long Covid anhand des ICD-10-Codes erhoben. Der ICD-10-Code ist ein internationales Klassifikationssystem von Krankheiten. Laut diesem System hat jemand Long Covid, wenn er oder sie von ärztlicher Seite den Code U09.9 verpasst bekommen hat. Punkt.
Weiters verwendeten sie ein durch Computer Learning anhand von Demografie, Inanspruchnahme des Gesundheitswesens, Diagnosen und Medikation erstelltes Diagnosesystem, das sie hier detailliert vorstellten.
Da bei Systeme eine recht enge Definition von Long Covid liefern (enger als die WHO-Definition) und da Long Covid im medizinischen Alltag deutlich unterdiagnostiziert ist, ist der Anteil an Personen mit Long Covid hier deutlich geringer als in den meisten anderen Studien, nämlich bei unter 2% aller Personen ab 45 Tagen nach COVID-19. Die Bestimmung der Prävalenz von Long Covid war aber kein Ziel ihrer Arbeit.
Das Ergebnis der Studie war, dass die geimpften Personen nach einer Erkrankung an COVID-19 ein um ca. 30% geringeres Risiko für Long Covid hatten als die ungeimpften, und zwar sowohl bei der Computer erstellten als auch bei der ICD-10-Diagnose.
Wichtige Anmerkung: Es wurden nur das Auftreten von Long Covid nach einer Erkrankung an COVID-19 verglichen. Impfungen reduzieren allerdings - wenn auch zeitlich begrenzt - das Risiko, überhaupt an COVID-19 zu erkranken. Dieser zusätzliche Schutz vor Long Covid ging in diese Untersuchung nicht ein.
Und zwei wichtige Hinweise, den die Autoren aus den Untiefen der riesigen Datenmenge herausfischten:
- Sie fanden keinen Hinweis, dass der Impfschutz vor Long Covid mit den Omikron-Varianten geringer wurde.
- Sie fanden keinen Hinweis, dass der Impfschutz vor Long Covid mit zunehmendem zeitlichem Abstand von der Impfung geringer wurde.
Die Studie mit Daten aus Primärversorgungszentren in UK, Katalonien und Estland
Diese Studie ist erst als Preprint erschienen, das heißt, sie wurde noch nicht unabhängig begutachtet. Das vorweg. Allerdings erschien sie auf dem Preprint-Server von The Lancet, sodass zumindest eine gewisse Vorauswahl erfolgte
Hier wurde anhand von Datenbanken (zwei aus UK, je eine aus Katalonien und Estland) mit elektronischen Gesundheitsakten aus Primärversorgungszentren vier aufsteigende Patientenkohorten erstellt. Anhand der nationalen Impfpläne waren das in der Kohorte 1 Personen über 75 Jahren, die im Jänner 2021 in der ersten Prioritätsstufe geimpft wurden; in der Kohorte 2 zusätzlich Hochrisikopersonen über 18 und weitere über 75 jährige mit Impfung im Februar 2021; in der Kohorte 3 zusätzlich alle über 50; und in der Kohorte 4 schließlich zusätzlich alle über 18.
Sie wurden mit vergleichbaren Personen verglichen, die sich nicht impfen ließen. Im Unterschied zur vorigen Studie wurden hier nicht nur die Personen mit COVID-19, sondern alle angeschaut. Die beiden UK-Daten gingen bis Ende 2021, sodass im Wesentlichen die Alpha- und Delta-Varianten inkludiert sind, während die Daten aus Katalonien und Estland auch Omikron-Daten beinhalten.
Als Long Covid wurde hier die WHO-Definition genommen, also mindestens ein 90 bis 360 Tage nach einer COVID-19-Erkrankung neu aufgetretenes LC-Symptom. Das Long Covid-Risiko war bei den Geimpften durchgehend deutlich reduziert - von 45% in der GOLD-Datenbank aus den UK bis 16% in der katalanischen Datenbank. Und: In den beiden UK-Datenbanken war die Risikoreduktion bei der Kohorte 4, die auch die jüngeren Personen ab 18 Jahren inkludiert, am größten, in der katalanischen Datenbank zumindest nicht geringer als beiden “älteren” Kohorten. (In Estland allerdings schon.)
Die Studie mit dem Vergleich der Prävalenz von Long Covid im Vergleich zur Durchimpfungsrate in den USA
In dieser statistisch sehr aufwendigen, in PLOS Global Public Health erschienenen Studie wurde erst versucht, die Prävalenz von Long Covid inkl. der Dunkelziffer zu berechnen. Darauf werde ich hier nicht weiter eingehen bis auf die Anmerkung, dass die Prävalenz laut den Autoren deutlich höher ist als in den meisten bisherigen Studien angegeben.
Dann wurde die so erhobene Long Covid-Prävalenz in den 50 US-Bundesstaaten mit der jeweiligen Durchimpfungsrate verglichen. Hier zeigte sich eine statistisch hochsignifikante negative Korrelation zwischen Long Covid und Durchimpfung. Wo ein größerer Teil der Bevölkerung geimpft ist, ist die Prävalenz von Long Covid geringer.
Zusammenfassung und offene Fragen
Durch die drei Studien wird die Evidenz für ein reduziertes Risiko von Geimpften, an Long zu erkranken, weiter verhärtet. Impfungen bieten einen - wenn auch begrenzten und mit der Zeit deutlich abnehmenden - Schutz vor einer Erkrankung an COVID-19 und damit logischerweise auch an Long Covid. Aber auch wenn man sich trotz Impfung ansteckt, hat man im Vergleich zu Ungeimpften ein deutlich geringeres Risiko, an Long Covid zu erkranken.
Angerissen wurden zwei wichtige Fragen, die noch einer Klärung bedürfen.
- Wie lange hält die Risikoreduktion durch die Impfung an? Die erste der vorgestellten Studien fand zumindest keinen Hinweis auf eine abnehmende Wirksamkeit über den Beobachtungszeitraum von 300 Tagen. Allerdings war das Studiendesign nicht auf die Beantwortung dieser Frage ausgerichtet, sodass es sich nur um eine schwache Evidenz handelt.
- Wie hoch ist die Risikoreduktion, wenn man nur mild an COVID-19 erkrankt? Die breite Definition von Long Covid vermischt die Folgen einer direkten, strukturellen Schädigung durch einen vor allem bei Risikopersonen auftretenden schweren Verlauf (z.B. Atemnot nach COVID-Lungenentzündung) mit den mehr in Richtung ME/CFS gehenden Formen von Long Covid bei jüngeren, zuvor meist gesunden Personen. Ein Teil der Risikoreduktion kann zustandekommen, weil durch die Impfung einfach weniger schwere Verläufe auftreten. Die zweite vorgestellte Studie bietet einen schwachen Hinweis, dass gerade die jüngeren, gesunden Personen mehr von der Impfung profitieren. (Außer in Estland, warum auch immer.) Die einzige echte Evidenz kommt bisher lediglich von dieser recht kleinen italienischen Studie bei Gesundheitspersonal mit mildem bis moderatem Verlauf von COVID-19.
Die Impfempfehlungen für Booster gehen in vielen Ländern zunehmend in eine Richtung, die diese nur mehr bei Risikopersonen für einen schwereren Verlauf von COVID-19. Wenn die Impfungen das Risiko von Long Covid auch bei jüngeren, gesunden Personen signifikant senkt, sollten diese Empfehlungen meiner Meinung nach überdacht werden.