Long Covid und ME/CFS - Teil 1

Long Covid und ME/CFS - Teil 1

Substack-Artikel vom 10.03.2023:

Wie Betroffene den Begriff Long Covid selbst schufen :: Versuch einer Definition von Long Covid :: Folgen von COVID-19, die nicht als Long Covid gelten


Eine Vorbemerkung zu dieser Artikelserie: In den letzten 3 Jahren habe ich in meiner klinischen Tätigkeit im Spital viel mit COVID-19 zu tun gehabt. Bei Long Covid und dem teilweise damit überlappenden Krankheitsbild Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrom, kurz ME/CFS, fehlt mir diese praktische Erfahrung. Ich bin kein Experte für diese Erkrankungen. Weil mich COVID-19 nicht nur beruflich betrifft, sondern auch von Anfang an brennend interessiert hat, habe ich mich aber auch viel mit Long Covid beschäftigt. Dazu kommt eine persönliche Betroffenheit, weil meine 17jährige Tochter ziemlich stark davon erwischt wurde. Somit erlebe ich also doch auch aus erster Hand mit, wie sich Long Covid auswirken kann. Und das ist auch einer der Gründe, warum ich diese Artikelserie schreibe.

Im ersten Teil geht es um die Erfindung des Begriffs “Long Covid”, um die Definition und um schwere Folgen von COVID-19, die nicht Long Covid im eigentlichen Sinn sind.

Im zweiten Teil geht es um das breite Spektrum der Symptome von Long Covid und darum, wie häufig Long Covid überhaupt ist.

Im dritten Teil geht es darum, was im Körper vor sich geht, damit Long Covid entsteht.

Im vierten Teil folgt der Schwenk zu ME/CFS, jener Krankheit, an der ein Teil der besonders schwer von Long Covid betroffenen Personen erkrankt sind.

Im fünften Teil geht es um die Symptome von ME/CFS, um das was die Betroffenen verspüren.

Im sechsten Teil versuche ich, einen kurzen Überblick über die Behandlung von Long Covid und ME/CFS zu bieten und darüber, wie man es das Risiko, es zu bekommen, senken kann.

Im siebten Teil folgen zum Abschluss einige persönliche Betrachtungen von Long Covid.


Die Geschichte des Begriffs “Long Covid”

Schon früh in der Pandemie tauchten Berichte auf, dass sich manche Menschen nach einem an sich nicht allzu schweren Verlauf COVID-19 nicht erholen. Paul Garner, Professor für Infektiologie in Liverpool, berichtete zum Beispiel schon Anfang Mai 2020 im British Medical Journal über seine anhaltende gesundheitliche Achterbahnfahrt, extreme Emotionen und völlige Erschöpfung:

 Paul Garner: For 7 weeks I have been through a roller coaster of ill health, extreme emotions, and utter exhaustion May 5, 2020  Paul Garner, professor of infectious diseases at Liverpool School of Tropical Medicine, discusses his experience of having covid-19  In mid March I developed covid-19. For almost seven weeks I have been through a roller coaster of ill health, extreme emotions, and utter exhaustion. Although not hospitalised, it has been frightening and long. The illness ebbs and flows, but never goes away. Health professionals, employers, partners, and people with the disease need to know that this illness can last for weeks, and the long tail is not some “post-viral fatigue syndrome”—it is the disease. People who have a more protracted illness need help to understand and cope with the constantly shifting, bizarre symptoms, and their unpredictable course.

Der 20.Mai 2020 war der Tag, an dem der Begriff “Long Covid” erstmals schriftlich veröffentlicht wurde. Es geschah durch Elisa Perego - natürlich - auf Twitter. Und zwar mit einem recht unscheinbaren Tweet:

Das Bezeichnende daran: Elisa Perego ist weder Medizinerin noch Naturwissenschaftlerin. Sie ist eine Archäologin aus der Lombardei, die sich bereits sehr früh mit SARS-CoV-2 infizierte und in der Folge an anhaltenden Beschwerden litt, die sie schließlich selber Long Covid nannte.

Das ist deshalb bezeichnend, weil der Begriff „Long Covid“ nicht vom medizinischen Establishment, sondern von Betroffenen selbst geschaffen wurde. Bereits sehr früh vernetzten sich Betroffene über Social Media als Reaktion auf erste schlechte Erfahrungen mit dem medizinischen Betrieb. Schlechte Erfahrungen, weil ihre Beschwerden häufig nicht ernst genommen, bagatellisiert und allzu oft auf die Psyche abgeschoben wurden.

Später versuchten medizinische Institutionen bis hinauf zur WHO, eigene Begriffe zu finden, die den Patienten-basierten Ausdruck “Long Covid” ersetzen sollten. So entstanden z.B. „Post-Covid Syndrome“ oder „Post-Acute Sequelae of COVID-19“( = PASC), die in der medizinischen Fachliteratur oft statt Long Covid verwendet werden, aber in der klinischen Praxis weniger gebräuchlich sind.

Die Definitionen von Long Covid

Eine Folge dessen, dass “Long Covid” von Betroffenen mit teils unterschiedlichen Beschwerden geschaffen wurde, ist das Fehlen einer klaren Definition. Das war durchaus beabsichtigt. Es sollte kein Syndrom beschreiben, das man dann medizinisch in eine Schublade stecken kann. Die Betroffenen erlebten die Komplexität der Erkrankung an sich selbst und am Vergleich mit Leidensgenoss:innen. Das Ziel war ein Überbegriff für unterschiedliche anhaltenden Folgen einer Erkrankung an COVID-19.

Es waren die medizinischen Institutionen, die sich danach um eine Definition bemühten. Dem breiten Spektrum der Symtome entsprechend blieben diese Versuche zwangsläufig eher schwammig. Hier die Definition der WHO für die “post COVID-19 condition”, wie sie es nennen:

Post COVID-19 condition occurs in individuals with a history of probable or confirmed SARS-CoV-2 infection, usually 3 months from the onset of COVID-19 with symptoms that last for at least 2 months and cannot be explained by an alternative diagnosis. Common symptoms include fatigue, shortness of breath, cognitive dysfunction but also others which generally have an impact on everyday functioning. Symptoms may be new onset, following initial recovery from an acute COVID-19 episode, or persist from the initial illness. Symptoms may also fluctuate or relapse over time. A separate definition may be applicable for children.

Die Definition der WHO erfasst einige wesentliche Aspekte von Long Covid.

  • Die Diagnose ist erst nach einer gewissen Zeitdauer möglich. Dass man nach einer schweren Virusinfektion wie COVID-19 eine gewisse Erholungsphase braucht, ist häufig und entspricht noch nicht zwangsläufig Long Covid. 3 Monate nach COVID-19 mit Symtomen von mindestens 2 Monaten klingt etwas willkürlich, macht in der Klinik aber durchaus Sinn.
  • Die Beschwerden können im Zeitverlauf kommen und gehen, besser und schlechter werden.

Folgen von COVID-19, die nicht Long Covid sind

Nicht alle Folgen von COVID-19 sind Long Covid. Das Virus kann in unserem Körper vieles anstellen, das nicht zu Long Covid gezählt werden sollte, da sich die Therapie grundlegend unterscheidet.

Dekonditionierung nach langem Aufenthalt auf einer Intensivstation

Wer einen kritischen Verlauf gehabt hat, längere Zeit intubiert auf der Intensivstation gelegen ist, ist danach körperlich, psychisch und allzu oft auch kognitiv nicht mehr dieselbe Person. Muskelschwund, die Critical Illness Neuropathie (Nervenstörung durch kritische Erkrankung) etc können auftreten, egal ob es sich um COVID-19 oder um einen anderen Grund für die kritische Erkrankung handelt. Vor allem in den ersten Monaten der Pandemie wurde all das häufig zu Long Covid hinzugezählt. Die Unterschiedung ist aber wichtig, da die Dekonditionierung nach ICU-Aufenthalt eines zu Long Covid konträren Therapiekonzepts bedarf. Das Rehab-Programm mit viel Training wäre bei Long Covid kontraproduktiv. Mehr dazu später.

Folgeerkrankungen, die nach COVID-19 gehäuft auftreten

Es gibt inzwischen zahlreiche Studien über das gehäufte Auftreten von Folgekrankheiten nach offizieller Genesung von COVID-19, definitionsgemäß ab einem Monat nach der Infektion. Das sind vor allem Herz/Kreislauferkrankungen und neurologische Krankheiten. In einem Review von Hannah Davis et al. gibt es diese Übersicht:

Im Vergleich zu Personen ohne COVID-19 ist nach COVID19 das relative Risiko des Auftretens einer Lungenembolie um das 3fache gesteigert, eines Herzstillstand um das 2,5fache, eines Schlaganfalls um das 1,5fache. Wohlgemerkt nicht im Rahmen des akuten Infektes, sondern nach 30 Tagen bis 6 Monaten, wenn man glaubt, es wäre alles bereits vorbei.

Und wenn man COVID-19 samt der Folgen bereits überstanden hat, ist man immer noch nicht aus dem Schneider. Mit jeder neuerlichen Infektion steigt das Risiko für Folgeerkrankungen kumulativ an, wie diese grafische Darstellung einer in Nature Medicine erschienen Arbeit zeigt:

Auch das relative Risiko des Auftretens einer Reihe von Autoimmunerkrankungen ist 30 Tage bis 6 Monate nach COVID-19 um das zwei- bis dreifache erhöht. Die meisten dieser Krankheiten sind selten, aber angesichts der zig Millionen Infektionen handelt es sich in absoluten Zahlen doch um recht viele Betroffene. Und die meisten dieser Krankheiten sind schwer, teilweise trotz Therapie lebensgefährlich.


Das war der erste Teil meiner Übersicht. In ein paar Tagen geht es weiter, dann aber wirklich endlich mit Long Covid selbst.