Long Covid und ME/CFS - Teil 3

Long Covid und ME/CFS - Teil 3

Substack-Artikel vom 22.03.2023

Ein Überblick über die komplexen Vorgänge, die zu Long Covid führen


Eine Vorbemerkung zu dieser Artikelserie: In den letzten 3 Jahren habe ich in meiner klinischen Tätigkeit im Spital viel mit COVID-19 zu tun gehabt. Bei Long Covid und dem teilweise damit überlappenden Krankheitsbild Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrom, kurz ME/CFS, fehlt mir diese praktische Erfahrung. Ich bin kein Experte für diese Erkrankungen. Weil mich COVID-19 nicht nur beruflich betrifft, sondern auch von Anfang an brennend interessiert hat, habe ich mich aber auch viel mit Long Covid beschäftigt. Dazu kommt eine persönliche Betroffenheit, weil meine 17jährige Tochter ziemlich stark davon erwischt wurde. Somit erlebe ich also doch auch aus erster Hand mit, wie sich Long Covid auswirken kann. Und das ist auch einer der Gründe, warum ich diese Artikelserie schreibe.

Im ersten Teil geht es um die Erfindung des Begriffs “Long Covid”, um die Definition und um schwere Folgen von COVID-19, die nicht Long Covid im eigentlichen Sinn sind.

Im zweiten Teil geht es um das breite Spektrum der Symptome von Long Covid und darum, wie häufig Long Covid überhaupt ist.

Im dritten Teil geht es darum, was im Körper vor sich geht, damit Long Covid entsteht.

Im vierten Teil folgt der Schwenk zu ME/CFS, jener Krankheit, an der ein Teil der besonders schwer von Long Covid betroffenen Personen erkrankt sind.

Im fünften Teil geht es um die Symptome von ME/CFS, um das was die Betroffenen verspüren.

Im sechsten Teil versuche ich, einen kurzen Überblick über die Behandlung von Long Covid und ME/CFS zu bieten und darüber, wie man es das Risiko, es zu bekommen, senken kann.

Im siebten Teil folgen zum Abschluss einige persönliche Betrachtungen von Long Covid.


Wodurch es zu Long Covid kommt - die Pathomechanismen

In den vorigen Teilen bin ich schon darauf eingegangen, dass Long Covid ein von Betroffenen selbst geschaffener Begriff ist, der weniger eine klar umrissene Krankheit bezeichnet, sondern eher ein Überbegriff für ein recht weit gefasstes Spektrum an chronischen Symptomen ist, die nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 auftreten können. Wenn man sich anschaut, was im Körper passiert, damit es zu Long Covid kommt, stellt man fest: Es wird kein bisschen einfacher. Es gibt nicht nur einen Mechanismus, der Long Covid hervorruft, sondern gleich mehrere, die sich teilweise gegenseitig beeinflussen und verstärken.

Die folgende Grafik stammt aus einem frei abrufbaren Online-Vortrag von Akiko Iwasaki, Immunologin in Yale, die sich sehr eingehend mit den immunologischen Prozessen bei COVID-19 und bei Long Covid beschäftigt:

Im Grunde lassen sich die Auslöser für Long Covid in vier Hauptgruppen aufteilen:

  • Das Virusreservoir bezeichnet eine chronische Infektion mit SARS-CoV-2 und/oder ein Verbleiben von immunologisch reaktiven Virusbestandteilen im Körper. Diese latenten Infektionen oder Virusbestandteile wurden bereits in mehreren Untersuchungen auch lange nach “Genesung” insbesondere im Darm, aber auch im Nervensystem inkl. dem Gehirn nachgewiesen.
  • Autoimmunität: Durch die Infektion mit SARS-CoV-2 kann es quasi zu einer Fehlleitung des Immunsystems kommen, sodass es sich gegen Teile des eigenen Körpers wendet.
  • Dysbiose/Reaktivierung: Als Folge von COVID-19 kann es zu einer Reaktivierung von latenten Infektionen durch andere Viren kommen, die im Körper von uns allen schlummern. Insbesondere das Ebstein-Barr-Virus, das über 90% der erwachsenen Bevölkerung meist im Kindesalter infiziert hat, wird hier immer wieder genannt. Zudem kann COVID-19 das Mikrobiom des Darmes stören, von dem wir inzwischen wissen, dass seine immunologische Bedeutung mit dem Ausdruck “Darmflora” völlig unterbewertet wird.
  • Und schließlich kann COVID-19 zu direkten Gewebsschädigungen führen. Natürlich in schwer geschädigten Lungen, aber vor allem auch und viel weniger leicht feststellbar in feinen Strukturen wie dem Endothel, das die Blutgefäße von innen auskleidet oder in Nervenzellen.

Bei diesen vier Pathomechanismen handelt es sich nicht etwa nur um Hypothesen zur Entstehung von Long Covid. Für alle gibt es direkte Nachweise. Das Virus kann also weit über die akute Infektion hinausgehend direkt oder indirekt über völlig unterschiedliche Wege den Körper schädigen und somit das komplexe Krankheitsbild Long Covid hervorrufen.

SARS-CoV-2 betrifft eben weit mehr als die Atemwege, die Bezeichnung von COVID-19 als Atemwegsinfektion ist längst überholt.

Es gibt jedenfalls unzählige Nachweise für eine somatische = körperliche Genese von Long Covid, was im Gegensatz zur immer wieder auftretenden Annahme steht (gelegentlich auch Unterstellung), dass Long Covid psychosomatisch bedingt oder gar “eingebildet” wäre. (Psychische Faktoren spielen bei Long Covid wie bei allen chronischen Erkrankungen natürlich eine wichtige Rolle, aber sie sind definitiv nicht die Ursache der Beschwerden.)

Zusammengefasst lässt sich durch die komplexen, vielfältigen Pathomechanismen erahnen, warum es so schwierig und vielleicht unmöglich ist, den einen Biomarker zu finden, mit dem man im Labor Long Covid diagnostizieren könnte. Oder auch eine bestimmte radiologische Untersuchung. Zudem ist anzunehmen, dass nicht alle vier Pathomechanismen bei allen Betroffenen zutreffen. Bei manchen werden ein oder zwei nachzuweisen sein, bei anderen vielleicht alle vier, aber individuell in unterschiedlichem Ausmaß. Entsprechend groß ist die Bandbreite der Symptome und wie ausgeprägt diese sind.

So stehen eben bei manchen Betroffenen durch eine direkte Schädigung der Lungenstruktur die anhaltende Atemnot und Husten im Vordergrund. Bei anderen kann zum Beispiel indirekt über (auto)immunologische Prozesse, Vaskulitis und Endotheldysfunktion, aber auch direkt durch Infektion von Teilen des Nervensystems und des Endothels zu Störungen des autonomen Nervensystems führen, welches neben vielen anderen Aufgaben unter anderem auch maßgeblich für die Steuerung des Kreislaufs, der Herzfunktion, der Darmtätigkeit oder die Organdurchblutung zuständig ist. Erschöpfung, reduzierte Leistungsfähigkeit, Störungen von Hirnfunktionen etc. können die Folge sein.

Das relative Risiko für Störung des autonomen Nervensystems - die Dysautonomie - ist entsprechend bei Personen nach COVID-19 im Vergleich zu Personen ohne Infektion exorbitant erhöht. Laut dem Review von Hannah Davis et al. mehr als um das 80fache. Eine Krankheit, bei der die Dysautonomie häufig eine wichtige Rolle einnimmt, ist ME/CFS, welche nach COVID-19 60mal häufiger auftritt.


Nachdem ich nun versucht habe, hoffentlich halbwegs verständlich die komplexen Pathomechanismen von Long Covid darzulegen, sind wir nun also endlich bei ME/CFS angelangt, an dem ein Teil der besonders schwer von Long Covid betroffenen Personen erkrankt. Mehr darüber im nächsten Teil in ein paar Tagen.