Long Covid und ME/CFS - Teil 4

Long Covid und ME/CFS - Teil 4

Substack-Artikel vom 28.03.2023:

Was das chronische Fatigue-Syndrom ist :: Warum viele Betroffene schlechte Erfahrungen im medizinischen Betrieb machen :: Warum der Name Chronisches Fatigue-Syndrom der Krankheit nicht gerecht wird.


Eine Vorbemerkung zu dieser Artikelserie: In den letzten 3 Jahren habe ich in meiner klinischen Tätigkeit im Spital viel mit COVID-19 zu tun gehabt. Bei Long Covid und dem teilweise damit überlappenden Krankheitsbild Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrom, kurz ME/CFS, fehlt mir diese praktische Erfahrung. Ich bin kein Experte für diese Erkrankungen. Weil mich COVID-19 nicht nur beruflich betrifft, sondern auch von Anfang an brennend interessiert hat, habe ich mich aber auch viel mit Long Covid beschäftigt. Dazu kommt eine persönliche Betroffenheit, weil meine 17jährige Tochter ziemlich stark davon erwischt wurde. Somit erlebe ich also doch auch aus erster Hand mit, wie sich Long Covid auswirken kann. Und das ist auch einer der Gründe, warum ich diese Artikelserie schreibe.

Im ersten Teil geht es um die Erfindung des Begriffs “Long Covid”, um die Definition und um schwere Folgen von COVID-19, die nicht Long Covid im eigentlichen Sinn sind.

Im zweiten Teil geht es um das breite Spektrum der Symptome von Long Covid und darum, wie häufig Long Covid überhaupt ist.

Im dritten Teil geht es darum, was im Körper vor sich geht, damit Long Covid entsteht.

Im vierten Teil folgt der Schwenk zu ME/CFS, jener Krankheit, an der ein Teil der besonders schwer von Long Covid betroffenen Personen erkrankt sind.

Im fünften Teil geht es um die Symptome von ME/CFS, um das was die Betroffenen verspüren.

Im sechsten Teil versuche ich, einen kurzen Überblick über die Behandlung von Long Covid und ME/CFS zu bieten und darüber, wie man es das Risiko, es zu bekommen, senken kann.

Im siebten Teil folgen zum Abschluss einige persönliche Betrachtungen von Long Covid.


Wie häufig ist ME/CFS?

Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom - kurz ME/CFS - ist eine schwere Krankheit, die erst in der Folge der COVID-19-Pandemie bei einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist. Dabei handelt es sich um keine seltene Krankheit.

Wie viele Menschen in Österreich davon betroffen sind, ist nicht bekannt. Es gibt - so wie auch in den meisten anderen Ländern - keine verlässlichen Erhebungen darüber. Eine sehr grobe Schätzung durch Umlegen von Versicherungsdaten aus den USA lässt vermuten, dass es in Österreich vor der COVID-19-Pandemie ca. 30.000 Betroffene gab. Damit wäre ME/CFS 2019 ungefähr so häufig wie MS, die Multiple Sklerose, gewesen. Ebenso grob geschätzt dürfte sich die Zahl der Erkrankten durch COVID-19 bisher ca. verdoppelt haben.

ME/CFS kann in jedem Alter auftreten, ein Häufigkeitsgipfel liegt bei Erwachsenen im Alter von 30 bis 40 Jahren, ein etwas kleinerer Gipfel in der späten Adoleszenz. Frauen sind ca. 2-3mal häufiger betroffen als Männer.

Bei aller früher schon besprochenen Schwierigkeit zu quantifizieren, wie viele Personen nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 überhaupt an Long Covid erkranken, wird geschätzt, dass ca. 1/5 der Long Covid-Patient:innen die Kriterien von ME/CFS erfüllen (zu den Kriterien später mehr). Das würde bedeuten, dass ca. 2-3% der an COVID-19 erkrankten Personen ME/CFS entwickeln. Zumindest war das vor den Impfungen so. Auch dazu später mehr.

ME/CFS ist nicht nur relativ häufig, es ist auch eine schwere Krankheit. Von den daran erkrankten Personen können bis zu 75% nicht Vollzeit arbeiten, nicht erfolgreich studieren, nicht oder nur mit großer Mühe die Schule abschließen. Bis zu 25% sind so schwer erkrankt, dass sie nur kurze Gehstrecken zurücklegen können oder völlig bettlägrig sind.

ME/CFS und damit Long Covid hat somit neben all dem individuellen Leid für die Erkrankten und deren Angehörige auch eine enorme volkswirtschaftliche Bedeutung. Zu den Kosten für das Gesundheitssystem kommen Kosten durch Ausfall von Arbeitskräften. Der Unternehmensberatungskonzern McKinsey geht für 2022 davon aus, dass in den USA 45 Miĺlionen Arbeitstage durch Long Covid verloren gingen.

ME/CFS wird im medizinischen Betrieb oft nicht ernst genommen

Die Medizin tut sich schwer mit ME/CFS. Wir Ärzt:innen haben ganz einfach Probleme mit schwer fassbaren, komplexen Krankheiten. Wir haben gelernt, Befunde zu erheben, anhand denen wir Diagnosen stellen können. Und wir haben gerne harte Fakten - Laborwerte, Bildgebung etc. - mit denen wir die Angaben der Patient:innen “objektivieren” können. Ich nehme mich selber da gar nicht aus. Die Anamneseerhebung, das Gespräch, ist zeitraubend und kommt in der Ausbildung meist zu kurz. Zudem haben wir alle die Erfahrung gemacht, dass die Angaben von Patient:innen nicht immer vertrauenswürdig sind. Meist unbewusst, manchmal auch ganz bewusst.

Eine Krankheit wie ME/CFS oder oft auch Long Covid, bei der wir weitgehend ohne “hard Facts” auskommen müssen, verleitet viele uns dazu, diese Krankheit nicht ernst zu nehmen. Und let’s face it: Wenn die Betroffenen mehrheitlich (jüngere) Frauen sind, ist das wahrscheinlich erst recht so.

Dazu kommt, dass die Betroffenen bei oberflächlicher Betrachtung oft nicht “krank” ausschauen. Ihre Beschwerden werden deshalb als “Müdigkeit“ bagatellisiert, als “Einbildung“, “psychosomatisch“ oder “Depression“ klassifiziert. Hier bietet sich neuerlich ein Vergleich mit der Multiplen Sklerose an, einer ebenfalls mehrheitlich “weiblichen” Krankheit. Vor der Etablierung der Magnetresonanz-Bildgebung, anhand der die typischen Veränderungen im Gehirn festgestellt - objektiviert - werden können, wurde MS ebenfalls oft als “psychosomatisch oder “hysterisch” bezeichnet. Und wenn die daran Erkrankten irgendwann bettlägrig wurden, dann lag es eben am Muskelschwund durch fehlende Bewegung.

ME/CFS ist nicht einfach Erschöpfung

Das Problem von ME/CFS beginnt bereits beim Namen. Es wird oft als “Müdigkeit” bagatellisiert. “Müde bin ich auch”, ist ein Satz, den Betroffene auch von Ärzt:innen immer wieder zu hören bekommen. Doch die Fatigue, wie sie bei ME/CFS auftritt, geht weit über das hinaus, was man gemeinhin unter “Erschöpfung” versteht. Herbert Renz-Polster und Carmen Scheibenbogen beschrieben die Fatigue in einem Artikel über Long Covid und ME/CFS so:

Der Begriff Fatigue bezeichnet eine zu den vorausgegangenen Anstrengungen unverhältnismäßige, durch Schlaf nicht zu beseitigende Erschöpfung, die sowohl körperlicher als auch geistiger und/oder seelischer Art sein kann. Sie ist damit von der klassischen Müdigkeit oder auch dem diffusen Begriff der „Erschöpfung“ klar abzutrennen.

Eine Expertengruppe des National Institute of Medicine in den USA schlug deshalb als alternative Bezeichnung Systemic Exertion Intolerance Disease (SEID) vor - die Krankheit der systemischen Belastungsintoleranz. Diese Bezeichnung, die sich letztlich nicht durchsetzte, gibt er einen Schlüsselaspekt von ME/CFS gut wieder: die pathologische Reaktion auf Belastungen.

Aber auch diese Bezeichnung spiegelt nur unvollständig wider, was die Erkrankten spüren. Dies lassen die Diagnosekriterien erahnen:


Mehr dazu im nächsten Teil, in dem ich anhand der obigen Diagnosekriterien etwas genauer auf die Symptome von ME/CFS eingehen werde.