Long Covid und ME/CFS - Teil 5

Long Covid und ME/CFS - Teil 5

Substack-Artikel vom 02.04.2023:

An was für Symptomen leiden Personen mit ME/CFS und damit viele Personen mit Long Covid? :: Weil alles kompliziert ist, folgt dann noch ein kurzer Abstecher zum Mastzellaktivierungssyndrom ::


Eine Vorbemerkung zu dieser Artikelserie: In den letzten 3 Jahren habe ich in meiner klinischen Tätigkeit im Spital viel mit COVID-19 zu tun gehabt. Bei Long Covid und dem teilweise damit überlappenden Krankheitsbild Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrom, kurz ME/CFS, fehlt mir diese praktische Erfahrung. Ich bin kein Experte für diese Erkrankungen. Weil mich COVID-19 nicht nur beruflich betrifft, sondern auch von Anfang an brennend interessiert hat, habe ich mich aber auch viel mit Long Covid beschäftigt. Dazu kommt eine persönliche Betroffenheit, weil meine 17jährige Tochter ziemlich stark davon erwischt wurde. Somit erlebe ich also doch auch aus erster Hand mit, wie sich Long Covid auswirken kann. Und das ist auch einer der Gründe, warum ich diese Artikelserie schreibe.

Im ersten Teil geht es um die Erfindung des Begriffs “Long Covid”, um die Definition und um schwere Folgen von COVID-19, die nicht Long Covid im eigentlichen Sinn sind.

Im zweiten Teil geht es um das breite Spektrum der Symptome von Long Covid und darum, wie häufig Long Covid überhaupt ist.

Im dritten Teil geht es darum, was im Körper vor sich geht, damit Long Covid entsteht.

Im vierten Teil folgt der Schwenk zu ME/CFS, jener Krankheit, an der ein Teil der besonders schwer von Long Covid betroffenen Personen erkrankt sind.

Im fünften Teil geht es um die Symptome von ME/CFS, um das was die Betroffenen verspüren.

Im sechsten Teil versuche ich, einen kurzen Überblick über die Behandlung von Long Covid und ME/CFS zu bieten und darüber, wie man es das Risiko, es zu bekommen, senken kann.

Im siebten Teil folgen zum Abschluss einige persönliche Betrachtungen von Long Covid.


Was sind die Symptome, an denen Menschen mit ME/CFS leiden?

Wie schon zuvor ausgeführt, wird die Diagnose des chronischen Fatigue-Syndroms ausschließlich anhand der Symptome erstellt. Dafür werden meist die Kanadischen Konsensuskriterien (CCC) herangezogen. Wie schon im vorigen Teil erwähnt, ist nur eine Minderheit der an Long Covid erkrankten Personen so schwer betroffen, dass sie die Kriterien von ME/CFS erfüllen. Aber viele von ihnen weisen Symptome auf, die zumindest in die Richtung von ME/CFS gehen. In meinem Verständnis handelt es sich nicht um voneinander getrennte Krankheiten, sondern um ein Kontinuum von eher leichter betroffenen Menschen mit zwei oder drei Long Covid-Symptomen bis eben zu jenen, die die Kriterien von ME/CFS ganz erfüllen. (Eine Ausnahme sind wohl jene Personen, bei denen die Long Covid-Symptome in erster Linie auf direkte Organschäden durch COVID-19 zurückzuführen sind.)

Auf der Website me-pedia.org der Patienteninitiative MEAction werden diese Konsensuskriterien übersichtlich dargestellt und erklärt. Leider habe ich keine auch nur annähernd so brauchbare deutsche Version gefunden.

Die ersten fünf Kategorien müssen allesamt vorhanden sein, um die Diagnosekriterien für ME/CFS zu erfüllen, von den oben unter Punkt 6 zusammengefassten drei Kategorien müssen mindestens zwei erfüllt werden. Und definitionsgemäß muss die Krankheit für eine definitive Diagnose seit mindestens sechs Monaten bestehen (bei Kindern und Jugendlichen genügen drei Monate).

  1. Fatigue: Darauf bin ich im vorigen Teil bereits ausführlicher eingegangen. Wichtig ist, dass die hier gemeinte Fatigue über bloße Müdigkeit oder Erschöpfung hinausgeht.
  2. Post-Exertional Malaise (PEM), die Zustandsverschlechterung nach Belastung: Sie ist fast pathognomonisch für ME/CFS und tritt entsprechend oft auch bei Long Covid auf. Die PEM beschreibt eine nach (auch leichter) Alltagsanstrengung auftretende Verschlechterung der Beschwerden, die meist erst nach mehreren Stunden oder am Folgetag einsetzt und oft mehrere Tage (bis Wochen) anhält. Auslöser können dabei körperliche, kognitive wie auch emotionale oder sensorische Belastungen sein. Bei schwersten Formen genügen Helligkeit und Geräusche, sodass die Betroffenen den Großteil des Tages und damit ihres Lebens in abgedunkelten Zimmern liegend verbringen. Selbst Radiohören kann zu anstrengend sein. Die Betroffenen sind dabei bei vollem Bewusstsein.Die PEM kann so schwer sein, dass sie zum Crash führt, der zu einer temporären Immobilisierung und manchmal sogar zu einer bleibenden Verschlechterung der Symptome führen kann.Besonders schwierig ist für die Betroffenen, dass der Antrieb bei ME/CFS nicht vermindert ist. Sie wollen sich bewegen, aktiv sein, laufen dabei aber Gefahr, über ihre Grenzen zu gehen und eine PEM oder gar einen Crash zu erleiden. Das ist ein wesentlicher Unterscheidung zur u.a. durch einen verminderten Antrieb definierten Depression und zum Burn-Out.Und besonders schlimm: Die sozialen Medien sind voll mit Berichten von Personen, die im Rahmen einer Rehab sich selber überfordert haben oder von Behandelnden dazu gedrängt worden sind, und daraufhin einen Crash mit bleibender Verschlechterung ihres Zustandes durch die Rehab erlitten haben.
  3. Schlafstörungen: Das Schlafbedürfnis ist erhöht, aber der Schlaf ist meist nicht erholsam, der Schlafrhythmus oft gestört.
  4. Schmerzen: Muskelschmerzen (Myalgien) haben es in den medizinischen Fachbegriff ME/CFS geschafft. Sie treten häufig, aber nicht immer auf. Bei vielen Betroffenen handelt es sich auch oder ausschließlich um Kopf- oder Gelenksschmerzen.
  5. Neurologische und kognitive Störungen: Hier fällt vieles drunter, was die Amerikaner so plastisch als Brain Fog, Gehirnnebel, bezeichnen. Konzentrationsschwierigkeiten, Wortfindungsstörungen etc. gehören dazu. Aber auch Muskelschwäche, Koordinationsstörungen etc. können auftreten.

Von den folgenden drei Symptomgruppen müssen zwei auftreten, um die Diagnosekriterien zu erfüllen:

  1. Dysautonomie, die Störung des autonomen Nervensystems, das wesentlich an der Steuerung von Herz und Kreislauf, aber auch z.B. der Verdauung beteiligt ist. Das autonome Nervensystem ist u.a. dafür zuständig, nach dem Aufstehen aus dem Sitzen oder Liegen blitzschnell den Kreislauf zu regulieren, sodass dem Versacken des Blutes in die Beine (Gravitation wirkt auch im Körper!) entgegengesteuert wird und das Gehirn genug durchblutet wird. Ist das gestört, kann es zu einem pathologischen Blutdruckabfall nach dem Aufstehen kommen, der orthostatischen Hypotonie, und/oder zum Herzrasen, dem POTS (posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom). Beides tritt auch bei “normalem” Long Covid häufig auf.
  2. Neuroendokrine Manifestation, bei denen das enge Zusammenspiel zwischen dem Nerven- und dem hormonellen System beeinträchtigt ist. Gestörtes Temperaturempfinden, pathologische Schweißausbrüche oder Appetitstörungen etc. können die Folge sein.
  3. Störungen des Immunsystems: Wiederkehrende Halsschmerzen, geschwollene Lymphknoten, Fieberschübe etc. sind die Folge.

Wie auch schon bei Long Covid möchte ich auch hier explizit darauf hinweisen, dass die Diagnose von ME/CFS (bis auf den kleinen Teil der Dysautonomie, die durch recht einfache Tests nachgewiesen werden kann) rein symptombasiert definiert ist. Es gibt - zumindest in der Routinediagnostik - keine spezifischen Laborparameter, keine “Biomarker”, keine spezifische Bildgebung. Und damit gibt es keine “objektiven” Diagnosekriterien.

Das Mastzellaktivierungssyndrom (MCAS)

Weil bei Long Covid und ME/CFS nichts einfach ist, gibt es jetzt noch einen kurzen Abstecher zum Mastzellaktivierungssyndrom, das kein Teil der Diagnosekriterien und doch eng mit ME/CFS und damit auch mit Long Covid verbunden ist.

Die Mastzellen sind ein Teil Immunsystems und kommen in allen Geweben des Körpers vor, vor allem aber im Bindegewebe. Beim MCAS sind die Mastzellen pathologisch aktiviert und schütten zu viel Histamin aus (das unterschiedet es von der Histaminintoleranz, bei der der Körper mit dem über Essen und Trinken aufgenommenen Histamin überfordert ist). Der Überschuss an Histamin kann zu einer Reihe von Symptomen kann, die teilweise jenen von ME/CFS gleichen. Das MCAS ist sehr heterogen, die Diagnose ist nicht einfach und großteils rein symptombasiert. Das kommt euch schon bekannt vor.

Die Unterscheidung von ME/CFS und dem MCAS ist entsprechend schwierig. Es wird aber noch komplizierter: Ein beträchtlicher Teil der an ME/CFS erkrankten Personen ist auch am MCAS erkrankt. Wie sehr die beiden Krankheiten zusammenhängen ist ein recht junges Forschungsfeld. Da wird wohl noch einiges kommen. Für den Moment ist der wichtigste Punkt, dass die Vermeidung von histaminreicher Kost und Antihistaminika ein Teil der Therapie bei ME/CFS und auch bei Long Covid ist.


Mehr therapeutische Überlegungen zu Long Covid und ME/CFS sowie auch zur Vorbeugung gibt es im nächsten Teil.