4 Jahre COVID-19
Aus Anlass des vierten Geburtstags von COVID-19 ein Blick auf den Beginn der Pandemie und ein Blick auf die erste klinische Studie zum Herbstbooster, die eine kleine Überraschung bringt.
Am 31.12.2019 schrieb der in New York tätige steirische Impfstoffforscher Florian Krammer vier knappe Wort auf Twitter (Link auf das trackingfreie Nitter).
Für mich markiert dieser Tweet den Beginn der Pandemie, auch wenn wir inzwischen wissen, dass sich 2019-nCoV ("neues Coronavirus"), welches später in SARS-CoV-2 umbenannt wurde, bereits seit Oktober 2019 langsam regional verbreitet hatte, bis eben im Dezember "dutzende" im fernen Wuhan/China erkrankten. Damals freilich war die Meldung für mich wie für die meisten anderen lediglich eine kleine Notiz im Meldungsblock der Nachrichten.
Bereits am 20.01.2020 erhielt das gesamte medizinische Personal des Wiener Gesundheitsverbundes erste Anweisungen im Umgang mit 2019-nCoV - mit weiterhin klarer Verbindung des Virus zu Wuhan und noch falschen Vorstellungen der Hauptübertragungswege.
Ich geb's zu: Ich konnte mir damals, im Jänner 2020, noch nicht vorstellen, dass das alles für uns im fernen Europa zu einer noch größeren Gefahr als die alljährlichen Influenzawellen werden würde, die eh schon schlimm genug waren. (Auch wenn schon hundertfach gesagt und geschrieben: Die Influenza ist eine schwere Krankheit! Aber COVID-19 ist noch einmal ein Stück heftiger.)
Dann kam die Lombardei und - bei uns medial weniger beachtet - Madrid. Jetzt war uns allen klar, dass da etwas auf uns zukommen würde, was wir noch nie erlebt hatten.
Die Pandemie erreicht uns
Am 25.02.2020 hatte Österreich die ersten offiziellen COVID-19-Fälle in Innsbruck. Zwei Tage später war es auch in Wien soweit. Zuständig war die Klinik Favoriten mit ihrer Ebola-tauglichen Infektionsabteilung. Wenig später wurde mein Spital und insbesondere meine Abteilung als zweites in der Reihe festgelegt. Wir sind zwar keine Infektiologie, aber wir hatten Erfahrung als Influenzastation, wir haben fast nur 2-Bett-Zimmer, und wir befinden uns im selben Gebäude wie die Notfallabteilung - in einem alten Spital mit Pavillon-System, in dem die Kranken mit internen Krankenwägen von einem Gebäude zum anderen transportiert werden müssen, ein großer Vorteil. Und wir waren bereit für die Aufgabe. Keine einzige und kein einziger ließ sich auf eine andere Station versetzen - egal ob Ärzteschaft, Pflege oder Reinigungspersonal.
Wie wir die COVID-19-Kranken behandeln sollten, wussten wir noch nicht. Das wusste niemand. Anfangs verwendeten wir aufgrund vager Hinweise auf einen Benefit Hydroxychloroquin. Das stellte sich später als wirkungslos heraus, worauf es nicht mehr verwendet wurde. Das nennt sich wissenschaftlicher Fortschritt. Die Schwurbler preisen es noch immer an.
Wie das Personal mit der Infektionsgefahr umgehen und wie viele von uns es - fast ein Jahr vor den Impfungen - treffen würde, wussten wir erst recht nicht. Mehrere von uns steckten sich in der ersten Welle im Job an, ein Pfleger landete intubiert auf der Intensivstation. Berufsrisiko.
Hatten wir Angst? In ihrem sehr empfehlenswerten Buch "Angst" geht die Journalistin und ehemalige Kriegsberichterstatterin Petra Ramsauer auch kurz auf die Anfangszeit der Pandemie ein und schreibt folgendes:
Während wir uns der Situation stellen mussten, stürmte die Bevölkerung die Supermärkte für Panikkäufe. Später wurde uns COVID-Ärzten Panikmache vorgeworfen.
Am 11.03.2020 wurde die Schließung aller Schulen und Universitäten verkündigt. Das hatte es noch nie zuvor gegeben und spätestens jetzt war jedem der Ernst der Lage klar. FPÖ-Chef Kickl war das nicht genug, er warf der Regierung Untätigkeit vor. Am 13.03.2020 forderte er in einer noch immer abrufbaren Presseaussendung den Lockdown:
"FPÖ-Klubobmann Herbert Kickl befasste sich heute in einer Pressekonferenz, die er gemeinsam mit der freiheitlichen Klubobmannstellvertreterin Dr, Dagmar Belakowitsch abhielt, mit den aktuellen Entwicklungen rund um das Coronavirus. Dabei sprach er sich für einen „Lockdown“ Österreichs aus. (...) Österreich verfüge nach wie vor über eines der besten Gesundheitssysteme der Welt, aber auch dieses habe seine wunden Punkte und Achillesfersen, warnte Kickl. Daher sei es notwendig, alles zu unternehmen, um einen Kollaps zu verhindern und die exponentielle Steigerung der Neuinfektionen zu durchbrechen. Daher schlage die FPÖ einen „Lockdown“ vor."
Weder er noch seine Anhänger scheinen sich daran noch zu erinnern. Sie wettern nun gegen die Freiheitsberaubung durch den damals von ihm geforderten Lockdown, diskreditieren die Impfung und beschimpfen alle, die COVID-19 ernst nehmen. Die FPÖ organisierte manche der Corona-Demos mit.
Am 16.03.2020 war es wirklich soweit. Der Lockdown begann und sorgte dafür, dass wir relativ glimpflich durch die erste COVID-Welle kamen. Wie der Lockdown ausschaute, illustriert für mich das beeindruckende 2-Minuten-Video "empty vienna". Bilder wie aus einer anderen Zeit.
Bis dahin hielt sich die Pandemie an das Drehbuch, wie wir es aus Filmen wie Steven Soderburghs "Contagion" kannten, und wir dachten es würde nach dem Drehbuch weitergehen. Virus bedroht uns, viele sterben, ein paar Wissenschaftler:innen arbeiten Tag und Nacht an der Rettung der Menschheit, ein paar Verschwörungstheoretiker machen sich rasch selber lächerlich, die Impfung kommt, die Überlebenden sind glücklich.
Vier Jahre später
Im nun gerade beginnenden fünften Jahr der Pandemie wissen wir, dass das Drehbuch ganz anders ausschaut. Das Virus ist trickreicher als das Drehbuch und findet durch Evolution im Zeitraffer immer neue Wege, dem Immunsystem zu entkommen. Aus der Variantensuppe heraus haben Pirola und ihre Kinder die Führung übernommen. In den Virussequenzierungen, die jeweils um ca. 2 Wochen nachhinken, lag Pirola = BA.2.86 gemeinsam mit seinem derzeit erfolgreichsten Kind JN.1 in Österreich bei über 50%, in Wien bereits bei 67%.
Im Abwassermonitoring gehen die Zahlen zuletzt leicht zurück. Die Folgen der Feiertage und des Wiener Silvesterpfades mit 800.000 Besuchern der Wiener Innenstadt sind da freilich noch nicht zu sehen.
Zu sehen sind die vielen stationären Neuaufnahmen wegen COVID-19. Zuletzt waren es 1300 pro Woche laut SARI-Dashboard.
Das wird gar nicht so weit vom Höchststand der bisherigen Omikron-Wellen entfernt sein. Genau sagen lässt sich das nicht, weil zu Zeiten der Meldepflicht die Zahl der zu einem bestimmten Zeitpunkt stationären Personen erhoben wurde, im SARI-Dashboard aber die Neuaufnahmen innerhalb einer Woche.
Auch wenn die Politik vermeldet, dass die Spitäler nicht überlastet wären, ist mein Eindruck von der Front ein anderer. Ich habe es unlängst auf Mastodon geschrieben:
Das sind aber nur Eindrücke, die ich durch keine Statistik vom Schreibtisch belegen kann.
Gar keine Statistiken finde ich zu den Todesfällen. Meiner Beobachtung auf unserer Abteilung zufolge scheinen die wieder deutlich zugenommen zu haben. Wir haben derzeit alle 2-3 Tage einen COVID-Todesfall auf unserer Abteilung. Und falls jemand fragt: Ja, im Unterschied zu früher sind es jetzt tatsächlich fast ausschließlich sehr alte und/oder sehr vorerkrankte Personen. Egal ist es mir trotzdem nicht.
Die Impfungen und die aktuelle Welle
Ein Grund für die derzeitige Situation ist neben dem Fehlen aller anderen Präventionsmaßnahmen die katastrophale Impfrate in Österreich. In einem Land, in dem der Glaube an "natürliche Selbstheilungskräfte" und Scheinmedizin von Vornherein sehr groß ist, taten und tun die Antiimpfpropaganda das ihre, die Impfungen noch weiter zu diskreditieren. In seiner Seuchenkolumne vergleicht Robert Zangerle die Impfrate der Herbstimpfung von Österreich im Vergleich mit einigen anderen Ländern. Warum nehmen sich die Schwedenfans kein Vorbild an Schweden?
Die geringe Impfrate ist insbesondere schlecht, wenn man sich eine brandaktuelle Studie zu den XBB.1.5-Herbstboostern anschaut.
Die Studie liegt erst als Preprint vor, wurde also noch nicht von unabhängigen Experten begutachtet. Außerdem ist sie von Pfizer finanziert. Aber es ist die erste klinische Studie zum upgedateten Impfstoff, die früheren hatten Labormarker wie zum Beispiel neutralisierende Antikörper angeschaut.
Personen, die vor mindestens 14 Tagen den XBB-Booster erhalten hatten, hatten im Vergleich zu Personen ohne den Booster ein um jeweils rund 60% geringeres Risiko, wegen COVID-19 eine ärztliche Kontrolle im niedergelassenen Bereich oder in einer Notfallaufnahme zu haben bzw. stationär aufgenommen zu werden. Das ist die sehr gute Nachricht für die geboosterten Personen. Die schlechte Nachricht für alle anderen: Frühere Impfungen hatten in dieser Studie keinen Einfluss auf das Outcome. Es war bei den Ungeimpften gleich wie bei den mit den früheren Impfstoffen 2 bis 4x geimpften Personen. (Frühere Infektionen wurden nicht berücksichtigt, lediglich Personen mit einer Infektion innerhalb der letzten 90 Tage wurde exkludiert.)
Das Ergebnis überrascht doch einigermaßen. Sollten sich die Ergebnisse bestätigen, können wir uns offenbar von der bisherigen Beobachtung eines lange anhaltenden Schutzes durch die T-Zell-Immunität verabschieden. Pirola hat sich offenbar so weit weg entwickelt, dass es auch den T-Zellen entkommt. Außer man hat die Immunität durch den aktualisierten Impfstoff upgedatet. Und wieder nur reine Beobachtung ohne Statistik: Im Spital beobachten wir genau das. Die meisten der derzeitigen Patient:innen sind drei- oder viermal geimpft, haben den XBB-Impfstoff aber nicht mehr bekommen.