COVID-19 und was es mit dem Gedächtnis macht
COVID-19 kann durch Veränderungen der neuronalen Vernetzung des Gehirns zum Verlust von kognitiven Fähigkeiten führen.
- Kognitive Einschränkungen und Demenz sind nach einer Erkrankung an COVID-19 so häufig, dass Neurowissenschaftler sich neue Inputs für die Demenzforschung erwarten.
- In den letzten Wochen erschienen gleich mehrere Studien, die aus verschiedenen Blickwinkeln den möglichen Einfluss von COVID-19 auf die Gedächtnisleistung und die kognitiven Fähigkeiten untersuchten.
- In allen untersuchten Patientengruppen zeigten sich noch Monate nach der Infektion Zeichen von verschlechterten Hirnfunktionen.
- Eine wichtige Rolle spielt dabei die neuronale Vernetzung der Hirnregionen und Hirnzellen.
- Wie sehr das Gehirn zur Regeneration der Vernetzung fähig ist und was wiederholte Reinfektionen anstellen, wissen wir noch nicht.
COVID-19 ist (auch) eine neurologische Erkrankung
Auch wenn es noch so oft behauptet wird, ist COVID-19 keine Erkältung. SARS-CoV-2 ist nur in dem Sinn ein respiratorisches Virus, als dass die (oberen) Atemwege die Eintrittspforte in den Körper sind. COVID-19 ist eine multisystemische Infektionskrankheit, die vor allem die kleinen Blutgefäße und das Nervensystem befallen und fast im ganzen Körper direkt oder indirekt Schäden anrichten kann. Das ist alles andere als neu.
Durch diese Schäden länger anhaltende neurologische Symptome gehören zu den vielen verschiedenen Beschwerden, die als Long Covid zusammenfasst werden. Die neurologischen Folgen von COVID-19 waren auch in diesem Blog schon öfters ein Thema (zum Beispiel: Verschmelzende Zellen und andere Dinge, die COVID-19 im Gehirn anstellen kann, COVID-19 und was es mit dem Gehirn macht samt Update dazu, Long Covid als Autoimmunerkrankung des Nervensystems).
Die Auswirkungen auf das Gehirn sind so eindeutig und so häufig, dass sich manche Wissenschaftler:innen erhoffen, dadurch neue Einsichten zu Pathogenese und Therapie der Alzheimer-Demenz und verwandter Demenz-Formen inkl. kognitiver Einschränkungen durch andere Viren zu erlangen, wie zwei dieser Wissenschaftler in diesem Nature-Artikel berichten:
"Viele Long-COVID-Patienten haben neurologische Probleme, die die Kriterien für das erfüllen, was normalerweise als altersbedingte leichte kognitive Beeinträchtigung oder leichte bis mittelschwere Demenz gelten würde. [...] Hirnstudien von COVID-Patienten gehören zu den aufschlussreichsten wissenschaftlichen Erkenntnissen, die im Zusammenhang mit der Pandemie gewonnen wurden."
Weil es so viele Infektionen mit SARS-CoV-2 gibt und ein beträchtlicher Teil jener mehr als 5%, die an Long COVID erkranken, eine Form von mit Alzheimer verwandter Demenz entwickeln, brauche es noch mehr Forschungsinitiativen zu diesem Thema. Davon seien große Auswirkungen auf Autoimmunkrankheiten im Allgemeinen und neuroinflammatorische Erkrankungen im Besonderen zu erwarten.
In der Neurowissenschaft - wenn auch nicht bei allen neurologischen Fachgesellschaften - ist also längst angekommen, dass das Thema ein riesiges ist und in der Bedeutung mit jeder neuen COVID-19-Welle zunimmt.
Neues zu Gehirn und Gedächtnis nach einer Erkrankung an COVID-19
Alleine in den letzten Wochen sind gleich mehrere Studien zu diesem Thema in hochrangigen Fachzeitschriften erschienen. Egal welche Personengruppen die Studien untersuchen - Menschen mit und ohne Long Covid Menschen nach einem leichten Verlauf von COVID-19 und welche, die wegen eines schweren Verlaufes stationär behandelt werden mussten - egal ob mehr die kognitiven Skills oder strukturelle Veränderungen im Gehirn untersucht werden, alle dieser Studien kommen zu vergleichbaren Ergebnissen: COVID-19 kann das Gehirn und unsere kognitiven Fähigkeiten schädigen, und zwar durchaus über einen längeren Zeitraum. Ein wichtige Rolle nimmt dabei die Vernetzung der Nervenzellen im Gehirn ein, wie wir noch sehen werden.
Kognitive Leistung bei Personen ohne Long Covid
Für einige Aufregung sorgt eine im Lancet-Verlag erschienene Studie bei Probanden der "SARS-CoV-2 Human Challenge Characterisation Study" ("Changes in memory and cognition during the SARS-CoV-2 human challenge study"). In dieser ethisch etwas umstrittenen, im Jahr 2021 durchgeführten Studie wurde 34 Freiwillige im Alter von 18 bis 30 Jahren, die zuvor noch keinen Kontakt mit dem Virus gehabt hatten (keine Infektion und keine Impfung), gezielt mit SARS-CoV-2 infiziert. Das ursprüngliche Ziel der Studie war herauszufinden, wie viele der Probanden tatsächlich erkrankten und wie sich die Dynamik der Infektion entwickelte (Inkubationszeit, Dauer der Infektiosität etc.). 18 der 34 Probanden erkrankten an COVID-19 (17 mit mildem Verlauf, eine Person asymptomatisch). Die restlichen 16 blieben in der PCR negativ - sie dienten in der nun vorliegenden Studie als Kontrollgruppe.
Für die nun vorliegende Folgestudie wurden in regelmäßigen Visiten über ein Jahr nach der gezielten Infektion die Gedächtnis- und Lernleistung sowie die unter dem Fachbegriff "exekutive Funktionen" zusammengefassten höheren kognitiven und mentalen Leistungen anhand von 11 spezifischen Tests erhoben. Obwohl keine einzige der Testpersonen Brain Fog oder andere Folgen von COVID-19 verspürte, schnitten die infizierten Personen nicht nur in der Zeit der akuten Erkrankung, sondern auch im gesamten Follow-up über ein Jahr signifikant schlechter ab als die nicht-infizierte Kontrollgruppe.
Kognitive Defizite ein Jahr nach einem schweren Verlauf von COVID-19
Diese Studie ist leider hinter einer dicken Paywall versteckt. Ich habe nur Zugang zum Abstrakt, weshalb ich sie nur kurz streifen möchte ("Post-hospitalisation COVID-19 cognitive deficits at one year are global and associated with elevated brain injury markers and grey matter volume reduction").
Hier wurden 351 Personen angeschaut, die einen schweren Verlauf von COVID-19 hatten und deshalb stationär behandelt wurden. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die wegen anderer Infektionen im Spital behandelt worden war, schnitten die COVID-19-Patienten nach einem Jahr in Tests der kognitiven Fähigkeiten signifikant schlechter ab, wiesen in der Magnetresonanzbildgebung einen gewissen Schwund der grauen Hirnsubstanz auf und hatten im Blut Substanzen, die auf eine immun-mediierte Hirnschädigungen hinwiesen. Knapp die Hälfte der COVID-19-Kranken hatten schon während des Spitalsaufenthaltes neurologische und/oder psychiatrische Komplikationen. Bei ihnen waren die Veränderungen nach einem Jahr stärker ausgeprägt als bei denen, die einen schweren Verlauf ohne diese Komplikationen gehabt hatten.
Durchaus öffentlichkeitswirksam verglichen die Autor:innen die kognitive Verschlechterung mit einer Hirnalterung von 20 Jahren. Immerhin zeigte sich im Verlauf eine Tendenz zu einer gewissen Erholung der Kognition.
Studien zur veränderten Vernetzung der Hirnnervenzellen nach COVID-19
In einer im Nature-Verlag erschienen Studie gingen die Wissenschaftler:innen der Frage nach, ob und wie sich die Vernetzung der Nervenzellen im Gehirn - die Brain Connectivity - nach COVID-19 ändert und inwiefern das was mit Brain Fog und anderen kognitiven Folgen zu tun haben könnte ("Altered functional brain connectivity, efficiency, and information flow associated with brain fog after mild to moderate COVID-19 infection").
Untersucht wurden 25 Erwachsene nach mildem oder moderatem Verlauf von COVID-19. Keiner von ihnen war wegen Long Covid in Behandlung. (Allerdings entsprechen einige der in weiterer Folge beschriebenen klinischen Symptome durchaus der Definition für Long Covid. Bisschen eigenartige Einschlusskriterien.) Im Durchschnitt 10 Monate nach der Erkrankung führten diese Personen verschiedene Tests der kognitiven Fähigkeiten durch und erhielten zudem einer speziellen Magnetresonanzbildgebung (MRI), aus deren Daten die neuronale Vernetzung der Gehirnregionen ermittelt wurde. (Wie das genau gemacht wurde, erschließt mich mir trotz der Beschreibung im Artikel nicht wirklich. Neurowissenschaft ist schon eine sehr spezielle Disziplin.)
Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe ohne Vorgeschichte von COVID-19 schnitten die von COVID-19 Genesenen jedenfalls in mehreren der Tests signifikant schlechter ab. Dazu passend war die neuronale Vernetzung nach COVID-19 in sieben der acht untersuchten Hirnregionen vermindert. Insbesondere in der frontoorbitalen Region, die u.a. wichtig für die Verarbeitung von Emotionen und für das Treffen von Entscheidungen ist.
Die Autor:innen weisen darauf hin, dass ähnliche strukturelle Veränderungen bei ME/CFS zu finden seien. Und sie fassen zusammen, dass der in der Studie beschriebene, diffuse Einfluss auf die funktionelle Konnektivität des Gehirns wahrscheinlich zu einer geringeren Effizienz der Gehirnfunktion führen kann, was zu den von den Patienten beobachteten Beschwerden und einem Rückgang der kognitiven Fähigkeiten führen könnte.
Ihr habt noch nicht genug von Studien darüber, was SARS-CoV-2 mit dem Gehirn anstellen kann? Zwei Studien aus Spanien habe ich noch, in denen Veränderungen bei Personen mit eine etablierten Diagnose von Long Covid untersucht worden sind.
In einer Studie aus Madrid untersuchten die Forscherinnen und Forscher bei 129 Personen mit Fatigue als Folge von COVID-19 die strukturellen und funktionellen Veränderungen des Gehirns ("Neural basis of fatigue in post-COVID syndrome and relationships with cognitive complaints and cognition"). Wie auch in der schon weiter oben vorgestellten Studie schauten sie sich die neuronale Vernetzung im Gehirn an.
Die Ergebnisse waren durchaus ähnlich. Die Long Covid-Kranken wiesen eine geringere neuronale Vernetzung - insbesondere des Frontalhirns - auf. Weiters fanden sie Veränderungen der grauen und der weißen Hirnsubstanz. Letzteres dokumentierten sie mit den folgenden Bildern:
Zum Abschluss hätte ich noch eine Studie aus Barcelona ("Multimodal neuroimaging in Long-COVID and its correlates with cognition 1.8 years after SARS-CoV-2 infection: a cross-sectional study of the Aliança ProHEpiC-19 Cognitiu"). Auch hier geht es um neuronale Vernetzung und strukturelle Veränderungen der weißen Hirnsubstanz bei Long Covid. Die 53 Patientinnen wiesen alle typischen Symptome von Schwäche und Fatigue über Schlafstörungen und Muskelschmerzen bis zu Konzentrationsstörungen und Brain Fog auf.
Die in kognitiven Tests erhobenen Schwächen korrelierten auch hier mit strukturellen Veränderungen der weißen Hirnsubstanz und mit - ihr habt es schon vermutet - der neuronalen Vernetzung. Diese Veränderungen waren auch noch nach fast zwei Jahren nachzuweisen.
Zusammenfassung
Die vorgestellten Studien Reihen sich in eine inzwischen erkleckliche Zahl an Forschung ein, die zeigt, dass Long Covid keine Einbildung oder psychosomatisch ist. Es wurden inzwischen schon mehrere greifbare und nachweisbare Veränderungen im Gehirn (und in anderen Organen) gefunden. Wie wir an der ersten vorgestellten Studie gesehen haben, sogar bei Personen, die an sich selber gar keine Veränderungen festgestellt haben.
Das Gehirn hat bemerkenswerte Fähigkeiten zur Regeneration - insbesondere wenn es um die neuronale Vernetzung geht. Trotzdem sind die Veränderungen auch noch nach nach fast zwei Jahren messbar. Kein gutes Zeichen. Was die ständigen Reinfektionen - bei vielen Menschen einmal pro Jahr - diesbezüglich anstellen, wissen wir noch nicht.