Slow COVID
Eine dritte, schleichend verlaufende Krankheitsfolge von COVID-19 neben dem schweren akuten Verlauf und Long Covid.
- Slow Covid ist eine Hypothese, dass SARS-CoV-2 zu von Betroffenen nicht bemerkten Veränderungen im Körper führen kann.
- Im Gegensatz zu Long Covid, das von Anfang zu Symptomen führt, manifestiert sich Slow Covid erst sich nach einiger Zeit - manchmal vielleicht nach Jahren - als neue Krankheit.
- Das Spektrum der von Slow Covid ausgelösten Krankheiten könnte von Herzerkrankungen über Demenz bis zu Krebserkrankungen reichen.
Die Hypothese von Slow Covid
Der kanadische Biowissenschaftler T. Ryan Gregory prägte meines Wissens nach als erster den Ausdruck "Slow COVID". (Er tat dies leider bei dem Mikroblogging-Dienst, das früher einmal Twitter geheißen hat. Warum es immer noch Wissenschaftler:innen gibt, die diese zu einem Hort der Wissenschaftsfeindlichkeit mutierte Plattform durch ihre Präsenz unterstützen, werde ich nie verstehen. Aber das ist ein ganz anderes Thema.)
Das ist der übersetzte Text seines Threads (Hervorhebungen durch mich):
"Also, @arijitchakrav und ich haben über die Idee von " Slow COVID" gesprochen, die ein eigenes Phänomen neben schwerem akutem COVID und Long COVID ist.
Darunter verstehen wir die Anhäufung von Schäden, die sich im Laufe der Zeit entwickeln, entweder durch wiederholte Infektionen oder durch anhaltende Infektionen.
Der Hauptunterschied zwischen einer Slow COVID und Long COVID besteht darin, dass Long COVID von Anfang an eindeutig mit belastenden Symptomen verbunden ist. Slow COVID kann schleichender verlaufen, wobei die Organ-, Immun-, kognitiven oder sonstigen Funktionen im Laufe der Zeit allmählich abnehmen.
Slow COVID könnte also das Ergebnis einer Schädigung durch die Erstinfektion sein, die sich erst nach einiger Zeit manifestiert, durch kumulative Schädigung durch wiederholte Infektionen und/oder durch eine anhaltende Infektion. [...]"
Alle außer denjenigen, die die Augen absichtlich verschließen, haben miterlebt, was für schlimme Auswirkungen die Akuterkrankungen an COVID-19 haben können, vor allem bevor die Impfungen verfügbar geworden sind. Das selbe gilt für Long Covid in seinen unterschiedlichen Erscheinungsformen. Beides habe ich in diesem Blog schon so oft besprochen, dass ich hier auf das Verlinken einzelner Artikel verzichte.
Slow Covid wäre eine dritte Entität, schleichend bis unbemerkt, aber nicht ungefährlich.
Langfristige Schäden durch SARS-CoV-2 und doch kein Long Covid
Wie hier schon öfters zur Sprache gebracht, ist Long Covid ein recht schwammiger Begriff, der sehr viele verschiedene Folgen von COVID-19 vereint, die eigentlich recht wenig miteinander zu tun haben, außer, dass sie eben einen Folge der Infektion sind.
Vor einigen Monaten veröffentlichte ein Team der National Academies endlich eine brauchbare Definition von Long Covid ("A Long COVID Definition - A Chronic, Systemic Disease State with Profound Consequences"):
"Long COVID ist eine infektionsassoziierte chronische Erkrankung (IACC), die nach einer SARS-CoV-2-Infektion auftritt und mindestens drei Monate lang als kontinuierlicher, rezidivierender und remittierender oder progressiver Krankheitszustand vorliegt, der ein oder mehrere Organsysteme betrifft."
Symptome und Krankheiten, die als Folge der Infektion erst nach einigen Monaten oder gar Jahren manifestieren, entsprechen also nicht dieser Definition.
Es mehren sich allerdings die Hinweise, dass SARS-CoV-2 im Körper Schäden anrichten kann, die man zunächst gar nicht bemerkt und die zu einer langsam schleichenden Verschlechterung der Gesundheit führen können oder über Jahre hinweg das Risiko für plötzliche Ereignisse erhöhen können.
Ein Kurzer Überblick:
COVID-19 und das Herz
Bereits Anfang 2022 berichtete zum Beispiel die Arbeitsgruppe um Ziyad Al-Aly über ein erhöhtes Risiko von Herzerkrankungen von Rhythmusstörungen bis zu Herzinfarkten im Jahr nach der Infektion bei US-Veteranen ("Long-term cardiovascular outcomes of COVID-19"). Ein Jahr später publizierte eine britische Arbeitsgruppe ähnliche Ergebnisse anhand der Gesundheitsdaten der aus UK ("Association of COVID-19 with short- and long-term risk of cardiovascular disease and mortality: a prospective cohort in UK Biobank").
In einem rezenten Blogartikel habe ich über eine große Studie bei US-Veteranen berichtet, in der selbst im dritten Jahr nach der COVID-19-Erkrankung das Sterberisiko sowie das Risiko einer neu diagnostizierten Erkrankung erhöht ist. Das betrifft vor allem diejenigen, die einen schweren Verlauf hatten, in einem geringerem Ausmaß aber auch Personen mit einem milden bis moderaten Verlauf von COVID-19 ("Klinische Folgen drei Jahre nach einer Erkrankung an COVID-19").
Das sollte nicht wirklich überraschen. Bereits kurz nach dem Beginn der Pandemie im September 2020 berichtete das Science Magazine über Veränderungen des Herzens als Folge von COVID-19 ("COVID-19 can affect the heart") und lieferte auch gleich eine Grafik, in der einige Mechanismen der Schädigung gezeigt wurden, die im Wesentlichen noch immer gültig sind.
Inzwischen ist vieles an neuem Wissen hinzugekommen. Zum Beispiel, dass SARS-CoV-2 direkt die Herzkranzgefäße infizieren und dort zu einer Entzündung der atherogenen Plaques führen kann, was wiederum einem Herzinfarkt auslösen kann ("SARS-CoV-2 infection triggers pro-atherogenic inflammatory responses in human coronary vessels").
COVID-19 und das Gehirn
Die möglichen Folgen von COVID-19 für das Gehirn und das Nervensystem waren ebenfalls schon öfters Thema in diesem Blog. Zum Beispiel in den folgenden Artikeln: Verschmelzende Zellen und andere Dinge, die COVID-19 im Gehirn anstellen kann, COVID-19 und was es mit dem Gehirn macht und [Update] COVID-19 und was es mit dem Gehirn macht.
Die daraus folgenden Symptome sind ein wichtiger Teil von Long Covid. Aber auch bei Menschen, die keine Symptome von Long Covid haben und die Infektion scheinbar unbeschadet überstanden haben, wurden Veränderungen gefunden. So wurden zum Beispiel auch bei ihnen strukturelle Marker für Entzündungen im Gehirn gefunden ("Brain imaging and neuropsychological assessment of individuals recovered from a mild to moderate SARS-CoV-2 infection"). Andere untersuchten die Gedächtnisleistung bei Personen nach COVID-19 - sie war gering, aber doch signifikant schlechter als bei einer Vergleichsgruppe ohne COVID-19 ("Cognition and Memory after Covid-19 in a Large Community Sample" - das war die Studie mit den medial weit verbreiteten "Reduktion des IQ um drei Punkte" - und "Prospective Memory Assessment before and after Covid-19").
Dann war da noch die Studie über die von den Probanden unbemerkte Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten, nachdem sie sich freiwillig in einer Studie mit SARS-CoV-2 infizieren lassen hatten ("Changes in memory and cognition during the SARS-CoV-2 human challenge study"). Und natürlich die rezenten neurowissenschaftlichen Arbeiten über die Veränderung der neuronalen Vernetzung des Gehirns, über die ich unlängst zu schreiben versucht habe:
Und nicht zuletzt gibt es Hinweise, dass COVID-19 das Risiko erhöhen könnte, an Parkinson zu erkranken. Eine Zunahme der Parkinson-Erkrankungen ist (noch) nicht zu sehen, sehr wohl aber eine vorzeitige Zellalterung der dopaminergen Zellen, deren Schädigung zum Parkinson-Syndrom führt ("SARS-CoV-2 infection causes dopaminergic neuron senescence"). Mehr dazu hier:
COVID-19 und andere Organe
Herz und Gehirn sind die beiden Organe, bei denen die Langzeitfolgen der Infektion am augenfälligsten sind. Tatsächlich aber kann COVID-19 fast jedes Organ schädigen. Kein Wunder, denn das SARS-CoV-2-Virus kann direkt und auch indirekt durch Immunantwort des Körpers die Endothelzellen schädigen, also die innerste Zellschicht der Blutgefäße, die hochaktiv an zahlreichen Stoffwechselprozessen beteiligt ist ("Clinical Implications of COVID-19-Related Endothelial Dysfunction"). Nicht zuletzt ist die Endothelschädigung maßgeblich an der Bildung von Mikrothromben beteiligt, die ihrerseits zu Schäden in den kleinen Blutgefäßen im ganzen Körper führen können ("COVID-19 promotes endothelial dysfunction and thrombogenicity: role of ie Endothelschädigung proinflammatory cytokines/SGLT2 prooxidant pathway").
Darüber hinaus kann COVID-19 unter anderem durch eine (oft klinisch und radiologisch unbemerkte) Entzündung von Lungengewebe zu einer Verschlechterung der Lungenfunktion führen (One-fourth of COVID-19 patients have an impaired pulmonary function after 12 months of disease onset"). Die Bildung von Immunzellen im Knochenmark kann unterdrückt bleiben (siehe "COVID-19 führt zu länger anhaltende Veränderungen des Immunsystems" in diesem Blog). Und was COVID-19 mit dem Darm und der Darmflora anstellen kann, beginnen wir erst langsam zu verstehen ("What do we know about covid-19’s effects on the gut?").
Was wir noch überhaupt nicht wissen, ist die Antwort auf die Frage, ob und wie sehr COVID-19 eine Risikofaktor für Krebserkrankungen ist. Arijit Chakravarty, der Forscher, mit dem T. Ryan Gregory Slow Covid diskutiert hat, ist dieser Frage in einem Videovortrag nachgegangen ("How would we know if SARS-CoV-2 can cause cancer?").
Die Liste ist unvollständig. Muss unvollständig bleiben. Die möglichen Folgen von COVID-19 sind so umfassend, dass sie hier maximal angerissen werden können. Ein etwas längerer, aber immer noch knapper Überblick findet sich hier:
Brauchen wir den Begriff "Slow Covid" überhaupt?
Dass unter dem Überbegriff Long Covid so viele verschiedene Dinge zusammengefasst werden, finde ich schon seit längerem problematisch. Vor allem in den zahlreichen Studien bei den US-Veterans werden Monate nach der Infektion auftretende Herzprobleme genauso als Long Covid bezeichnet, wie das klassische Long Covid, das in die Richtung von ME/CFS geht. Die zu Beginn präsentierte neue Definition von Long Covid ist da klarer.
Was aber tun mit jenen Folgen, die sich möglicherweise erst in Jahren manifestieren (oder auch nicht)? Demenz, Parkinson, Krebs? Mit Slow Covid, so sich der Begriff durchsetzt, haben wir einen gut verständlichen Sammelbegriff für alle erst spät nach der Infektion neu auftretenden Symptome und Krankheiten.
Bei allen möglichen Überschneidungen mit Long Covid bei den Pathomechanismen - von der Endothelzellschädigung bis zur Autoimmunität - wäre der maßgebliche Unterschied, dass Long Covid zu spürbaren Symptomen führt, während Slow Covid lange Zeit auch von den Betroffenen unbemerkt bleibt. Slow Covid wäre das, was das Virus unter der Oberfläche anstellt.
Ganz neu wäre das Konzept nicht. Auch bei anderen Viren kennen wir Krankheiten, die erst Jahre nach der Infektion auftreten - von der Multiplen Sklerose nach einer Infektion mit dem Ebstein-Barr-Virus über den Gebärmutterhalskrebs durch die Papillomaviren bis zur Leberzirrhose durch die Hepatitis C-Viren.
Noch ist Slow Covid allerdings nur eine Hypothese. Eine durch zahlreiche Beobachtungen gestützte Hypothese. Ein echter Nachweis der Existenz von Slow Covid wird aber eine Herausforderung. Eine Herausforderung, die man im Sinne der Prävention annehmen sollte.