Das "eigentliche" Long Covid und seine Häufigkeit
Eine große Studie untersuchte die Häufigkeit von ME/CFS und ME/CFS-ähnlichem Long Covid.

- Die Langzeitfolgen von COVID-19 können in verschiedene Untergruppen unterteilt werden.
- Eine große Studie untersuchte, wie häufig jene Form von Long Covid auftritt, die von Fatigue gekennzeichnet ist und in die Richtung von ME/CFS geht.
- Das relative Risiko einer Erkrankung an ME/CFS war im Vergleich zu nicht Infizierten um das 5fache erhöht.
Vor wenigen Tagen erschien eine neue Studie zur Häufigkeit von Long Covid. Schon wieder eine Studie zu diesem alten Thema, mögen manche denken. Doch diese Studie unterscheidet sich von fast allen bisher zu diesem Thema publizierten. Sie wirft nämlich nicht einfach alle chronischen Folgen von COVID-19 in einen Topf, sondern pickt jene Form von Long Covid heraus, die oft jüngere, zuvor gesunde Personen nach einer meist eher milden Infektion betrifft. Denn Long Covid ist nicht gleich Long Covid.
Verschiedene Formen von "Long Covid"
Long Covid ist ein ursprünglich von Betroffenen geschaffener Überbegriff für eine Reihe an gesundheitlichen Problemen und Krankheiten, die nach einer SARS-CoV-2-Infektion auftreten können. Siehe z.B. hier in einem Artikel, als dieser Blog noch ganz frisch und bei Substack zuhause war:

Wie auch in diesem Blog schon wiederholt angesprochen, ist eine der Schwierigkeiten, dass es keine einheitlichen Definitionen und Begriffe gibt. Manche sprechen von Post-Covid, manche von den post-acute sequelae of COVID-19 oder PASC ("post-akute Folgen von COVID-19"), manche eben von Long Covid. Die Begriffe werden teilweise synonym verwendet, teilweise unterschiedlich.
Weil sich um eine recht heterogene Mischung an Beschwerden handelt, gibt es verschiedene Versuche, eine praktikable Unterteilung zu finden. Ich halte die folgende Unterteilung für einfach und nachvollziehbar. Andere präferieren andere Unterteilungen.
- Die nach einem oft milden Verlauf von COVID-19 auftretenden Symptome, die in die Richtung des Chronic Fatigue Syndroms gehen oder sogar dem Vollbild von ME/CFS entsprechen.
- Anhaltende Symptome durch die Gewebsschädigung nach einem meist schwereren Verlauf von COVID-19, z.B. Lungenschäden nach einer schweren COVID-Lungenentzündung.
- Die durch COVID-19 ausgelöste Verschlechterung einer vorbestehenden Krankheit oder das neue Auftreten einer neuen Folgekrankheit, z.B. Herzinfarkte in den Wochen und Monaten nach der Infektion oder auch das gehäufte Auftreten von Autoimmunerkrankungen.
In meinem Verständnis entspricht der erste der obigen Punkte dem "eigentlichen" Long Covid, wie es jene Betroffenen, die den Begriff schufen, selbst verspürten. Alle 3 Gruppen könnte man unter dem Überbegriff post-akute Folgen von COVID-19 oder einfacher COVID-Langzeitfolgen zusammenfassen. Aber auch das ist keine allgemein anerkannte Unterteilung.
All diese Überlegungen sind nicht nur Spitzfindigkeiten. Sie haben konkrete Auswirkungen. Ein großer Teil insbesondere der epidemiologischen Studien zu Post-Covid/Long Covid behandelt vornehmlich die zweite und dritte der obigen Gruppen. Vor allem in den früheren Studien waren das Menschen, die wegen eines schweren Verlaufes von COVID-19 im Spital gewesen waren und nun an den Folgen leiden. Später folgten die großen Studien bei den US-Veteranen, großteils ältere Männer mit einem eher schweren Verlauf von COVID-19.
Das sind wichtige Studien, aus denen wir viel gelernt haben. U.a., wie viel seltener die Geimpften im Vergleich zu den Ungeimpften an COVID-Folgen erkranken. Aber zumindest mir geht es so, dass ich bei Long Covid eher nicht ältere US-Veteranen mit Herzproblemen vor meinem geistigen Auge habe, sondern jüngere Personen - oft Frauen -, die nach einer meist "milden" Infektion nicht mehr wirklich auf die Beine kommen, an bleiernen Müdigkeit und Erschöpfung und anderen Symptomen leiden, die sie in ihrem täglichen Leben einschränken. Denn das ist für mich das eigentliche oder echte Long Covid.
Genau über diese Gruppe ist jetzt endlich eine große epidemiologische Studie erschienen.
Die Studie zur Häufigkeit von echtem Long Covid
Im Rahmen des RECOVER-Projektes des National Institutes of Health in den USA wurden zwischen Oktober 2021 und September 2024 bei fast 13.000 Personen nach einer SARS-CoV-2-Infektion untersucht, ob sie an ME/CFS erkranken oder zumindest einzelne Symptome von ME/CFS entwickeln, ohne die Kriterien von ME/CFS zu erfüllen. Die Ergebnisse wurden vor wenigen Tagen publiziert:

Das RECOVER-Projekt hat zum Ziel, die Ursachen von Long Covid zu erforschen und Therapien zu finden. Insgesamt meldeten sich knapp 30.000 freiwillige Teilnehmer*innen, die in drei Gruppen unterteilt wurden: COVID-19 in den letzten 30 Tagen, COVID-19 vor mehr als 30 Tagen und Uninfizierte. Die Teilnehmenden wurden in unterschiedliche Studien eingeteilt. In der hier vorgestellten Arbeit wurden 4515 vor kurzem infizierte und 7270 vor mehr als einem Monat infizierte Personen inkludiert. Personen mit einem Spitalsaufenthalt wegen COVID-19 wurden in die Studie nicht aufgenommen. Weiters gab es eine Vergleichsgruppe von 1439 nicht infizierten Menschen.
Anhand von speziellen Fragebögen wurden die Symptome von ME/CFS abgefragt. Konkret wurde erhoben:
- Mäßige bis sehr starke Fatigue in den letzten 7 Tagen plus mäßige bis vollständige Beeinträchtigung der Fähigkeit, alltägliche körperliche Aktivitäten auszuführen.
- Fatigue ist nicht einfach Müdigkeit. Sie bezeichnet eine zu den vorausgegangenen Anstrengungen unverhältnismäßige, durch Schlaf nicht zu beseitigende Erschöpfung, die sowohl körperlicher als auch geistiger und/oder seelischer Art sein kann.
- Post-exertional Malaise (PEM)
- Sie beschreibt eine nach (auch leichter) Alltagsanstrengung auftretende Verschlechterung der Beschwerden, die meist erst nach mehreren Stunden oder am Folgetag einsetzt und oft mehrere Tage (bis Wochen) anhält.
- Kein oder nur wenig erholsamer Schlaf in den letzten 7 Tagen.
- Kognitive Einschränkungen und/oder eine orthostatische Intoleranz.
- Letztere beschreibt Kreislaufprobleme wie Herzrasen oder Schwindel nach dem Aufstehen aus dem Sitzen oder Liegen.
Wer alle diese Kriterien erfüllte, wurde als an ME/CFS erkrankt klassifiziert. Darüber hinaus wurden Personen, die nicht alle, aber doch zumindest eines dieser Kriterien aufwiesen, als "ME/CFS ähnlich" klassifiziert. Das macht die Studie für mich so gut. Endlich wurden genau jene Personen erfasst, die am eigentlichen Long Covid (siehe die Einteilung zu Beginn dieses Artikels) erkrankt sind!
Die Ergebnisse bei der ersten Studienvisite nach mindestens 6 Monaten hatten es in sich:
- 4,5% aller Infizierten - also fast jede*r Zwanzigste - erfüllte alle Studienkriterien für ME/CFS. Bei den Vergleichsgruppe ohne COVID waren es 0,6%.
- 39,8% der Infizierten gaben zumindest ein ME/CFS-Kriterium an, während es in der Vergleichsgruppe "nur" 16,1% waren.
Anhand der Gruppe der frisch Infizierten wurde die Inzidenz von ME/CFS erhoben, also wie häufig es neu auftrat. Es waren 2,66 pro 100 Personenjahren. Weil die Gruppe der Uninfizierten aufgrund unterschiedlicher Vorerkrankungen, anderer Geschlechts- und Altersverteilung nicht gut mit der Gruppe der Infizierten vergleichbar war, stellten die Forscher:innen prospektiv eine gut gematchte Vergleichsguppe zusammen. In dieser lag die Inzidenz bei 0,93 pro 100 Personenjahren. Die Hazard Ratio (also das relative Risiko über die Zeit) an ME/CFS zu erkranken war bei den Infizierten fast 5x so groß als in der gematchten Vergleichsgruppe.
Schaut man sich die einzelnen erhobenen Kriterien an, dann ist die post-exertional Malaise das häufigste ME/CFS-Kriterium nach COVID-19. 15,9% der akut infizierten Personen litten daran nach mindestens 6 Monaten und gar 29,1% der Personen mit schon länger zurückliegender Infektion. Alle ME/CFS-Kriterien traten bei den Infizierten deutlich häufiger auf als bei den Unifizierten.

Die Studie im Kontext
Ich tue mir etwas schwer mit der Einordnung der Ergebnisse bei den schon vor längerem infizierten Personen. Hier ist ein ziemlicher Bias naheliegend. Es wäre nicht überraschend, wenn sich eher Menschen zur Studienteilnahme gemeldet, die aufgrund persönlicher Betroffenheit ein größeres Interesse an einer Studie zu Long Covid haben als die Durchschnittsbevölkerung. Folglich ist der Anteil der an ME/CFS-ähnlichen Symptomen oder am Vollbild von ME/CFS leidenden Personen in dieser Gruppe, in der Studie vermutlich überschätzt.
Etwas anders schaut es bei den akut-infizierten Personen aus, die innerhalb von 30 Tagen nach COVID in die Studie inkludiert wurden, also noch bevor sie selber wissen konnten, ob sie an Long Covid erkranken würden. Bei ihnen ist die Inzidenz mit 2,66 von 100 erschreckend hoch für eine das Leben so stark einschränkende Krankheit. Und die Zahl jener, die zwar nicht dem Vollbild von ME/CFS entsprachen, aber zumindest eines der Symptome aufwiesen, war noch weit höher.
Auch wurde auch nicht untersucht, ob das relative Risiko von Long Covid im Verlauf der Pandemie geringer wird. Aber selbst falls der Anteil von ME/CFS und ähnlichen Folgen von COVID-19 bei den Teilnehmern der RECOVER-Studie etwas größer sein sollte als bei einer repräsentativ ausgewählten Studienpopulation in Zeiten von Omikron (das wissen wir nicht!), bietet die Studie einen wichtige Einschätzung der Häufigkeit der weiterhin bei einem beträchtlichen Teil der Infizierten auftretenden Langzeitfolgen.
Auch wenn es in der öffentlichen Wahrnehmung in den Hintergrund gerät: Long Covid betrifft eine signifikante Zahl an Personen, die an COVID-19 erkrankt waren, und hat große Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Nicht zuletzt haben die COVID-Langzeitfolgen somit auch eine volkswirtschaftliche Bedeutung.
Impfungen verringern das Risiko von COVID-Langzeitfolgen deutlich - je nach Studie um rund 30-50%. Denn die Impfungen verringern zumindest für eine gewisse Zeit die Wahrscheinlichkeit einer Infektion (seit Omikron leider nicht mehr so wirkungsvoll wie zuvor) und sie verringern v.a. bei Risikopersonen das Risiko eines schweren Verlaufs. Beides führt logischerweise zu weniger Langzeitfolgen. Aber auch das Risiko für Long Covid nach einem milden Verlauf wird durch die Impfungen deutlich gesenkt. Das wissen wir vor allem aus Studien bei Kindern und Jugendlichen. Mehr dazu gibt es u.a. hier:

Eine schlechte Nachricht bringt allerdings eine ebenfalls vor Kurzem publizierte Studie aus Chicago ("Vaccination prior to SARS-CoV-2 infection does not affect the neurologic manifestations of long COVID"). Wer trotz Impfung an Long Covid erkrankt, leidet genauso häufig an neurologischen Symptomen wie Brain Fog, Kopfschmerzen oder Schwindel wie ungeimpfte Personen mit Long Covid.
Ein weiterer Grund, trotz Impfung nicht auf andere Schutzmaßnahmen zu vergessen. Ihr wisst schon: saubere Luft, Masken in überfüllten oder schlecht belüfteten Innenräumen und so.